«Das Dreisäulenmodell ist historisch gewachsen»
Im Gespräch mit Daniel Schriber erläutern die beiden Ökonominnen Melanie Häner und Tamara Erhardt das Dreisäulenmodell und ordnen ein, wo in Zukunft weiterer Reformbedarf besteht.
Am 25. September hat die Schweizer Stimmbevölkerung Ja zur Angleichung des Rentenalters der Frauen gesagt. Wie beurteilen Sie diesen Abstimmungsausgang?
Melanie Häner: Grundsätzlich sehr positiv, denn immerhin handelt es sich um die erste erfolgreiche AHV-Reform seit über 25 Jahren. Es ist ein wichtiger Schritt in die Richtung einer nachhaltigen Finanzierung der Altersvorsorge.
Das Ergebnis fiel äusserst knapp aus, zudem zeigte sich ein grosser Geschlechtergraben. Wie ordnen Sie das ein?
Häner: Für uns handelte es sich in erster Linie um eine Finanzierungsvorlage. Es ist unglücklich, dass der vermeintliche Konflikt zwischen Mann und Frau so stark in den Vordergrund gerückt wird. Eindrücklich ist hingegen, dass die Zustimmung für die Erhöhung der Mehrwertsteuer mit 55,07 Prozent höher ausfiel als die Zustimmung für das höhere Rentenalter für Frauen (50,6 Prozent). Das zeigt, dass Reformen bei der reinen Einnahmenseite deutlich einfacher durchzusetzen sind als bei einer Kombination aus Einnahme- und Ausgabeseite.
Im Gespräch: die Ökonominnen Melanie Häner und Tamara Erhardt des IWP.
Sie haben gemeinsam das Policy Paper zum Drei-Säulen-Modell geschrieben. Was zeichnet dieses System auch nach 50 Jahren noch aus?
Häner: Das Dreisäulenmodell hat sich in der Schweiz durch ein Zusammenspiel von unternehmerischem Handeln, politischen Strömungen und einschneidenden Ereignissen wie den beiden Weltkriegen nach und nach etabliert. Die erste Säule dient der allgemeinen Existenzsicherung und hat deshalb auch einen stark umverteilenden Charakter, nicht nur von Jung zu Alt, sondern auch von Reich zu Arm. Das Modell ist historisch gewachsen und hat sich überaus gut bewährt.
Policy Paper zum Dreisäulenmodell: Ein kompakter Überblick nach 50 Jahren
Die aktuelle politische Debatte über unsere Altersvorsorge ist stark von Detailfragen und Vorurteilen geprägt. Dabei geraten die grossen Zusammenhänge allzu leicht aus dem Blick. In ihrem Policy Paper mit dem Titel «Das Drei-Säulen-Modell der Schweizer Altersvorsorge: Ein kompakter Überblick nach 50 Jahren.» werfen die Autorinnen und Autoren Melanie Häner, Tamara Erhardt, Nadja Koch und Professor Christoph A. Schaltegger einen genaueren Blick auf die Schweizer Altersvorsorge. Das Paper erläutert die Entstehung, die Ziele und die Funktionsweisen der drei Säulen. Die Autorinnen und Autoren stellen das Vorsorgemodell auf den Prüfstand, vergleichen es mit Alternativen aus anderen europäischen Ländern und wagen einen Blick in die Zukunft.
Sie haben auf der Website des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) ein fiktives Interview mit alt-Bundesrat Hans-Peter Tschudi veröffentlicht. Was würde der Vater der AHV zum heutigen System sagen?
Häner: Zuallererst wäre er froh, dass die jahrzehntelange Reformblockade endlich durchbrochen werden konnte. Hans-Peter Tschudi war schliesslich bekannt für «Tschudi-Tempo». Unter ihm wurden nicht weniger als vier AHV-Revisionen durchgeführt. Er trug wesentlich zu einer existenzsichernden ersten Säule bei. Heute würde er sich zurecht darin bestätigt sehen, dass die AHV überlebt hat. Tschudi war stets fest davon überzeugt, dass es die AHV auch in 100 Jahren noch geben werde. Gleichzeitig machte er sich vor 50 Jahren auch stark für das Dreisäulenmodell.
Die AHV gibt es in der Tat noch. Aber wie steht das Schweizer Modell im internationalen Vergleich da?
Häner: Sehr gut. Im Vergleich zum Ausland zeichnet sich das Schweizer Modell durch eine vergleichsweise tiefe Nettolohnersatzrate für hohe Einkommen sowie eine geringe erforderliche private Sparquote aus. Geringverdiener erhalten hingegen eine deutlich höhere Nettolohnersatzrate. Dadurch erlaubt das Modell einerseits die Existenzsicherung für alle Bürgerinnen und Bürger. Gleichzeitig führt das Modell bei den höheren Einkommen zu einer geringeren Verdrängung des privaten Sparens.
«Im Vergleich zum Ausland zeichnet sich das Schweizer Modell durch eine vergleichsweise tiefe Nettolohnersatzrate für hohe Einkommen sowie eine geringe erforderliche private Sparquote aus.»
Sie erwähnen in Ihrem Paper die private Sparquote. Was ist das genau?
Tamara Erhardt: Die private Sparquote gibt Auskunft darüber, welcher Anteil des gewohnten Lebensstandards im Rentenalter durch das Vorsorgesystem erhalten wird – und welcher Anteil selbst beigesteuert wird. Im Vergleich zum Ausland zeichnet sich das Schweizer Modell durch eine tiefe erforderliche private Sparquote aus.
Wie hoch ist die Quote denn bei uns?
Erhardt: Gemessen an der erforderlichen privaten Sparquote belegt die Schweiz mit 14 Prozent in unserem Ländervergleich den zweiten Platz direkt nach Schweden. In der Schweiz müssen also Erwerbstätige mit einem Durchschnittseinkommen zusätzlich zur obligatorischen Altersvorsorge 14 Prozent des Nettoeinkommens sparen, um den Lebensstandard nach der Pensionierung aufrechterhalten zu können. Zum Vergleich: In Deutschland liegt die erforderliche private Sparquote bei 30 Prozent, in Frankreich sogar bei 44 Prozent.

Die Schweiz schneidet nicht nur punkto einkommensabhängiger Nettolohnersatzrate im Ländervergleich positiv ab, sondern auch in Bezug auf die tiefe erforderliche private Sparquote. Quelle: Darstellung des IWP, OECD (2021), UBS (2021)
Trotz dieser erfreulichen Statistik ist der Reformbedarf im Vorsorgebereich unbestritten.
Häner: So ist es. Dank der aktuellen Reform ist die Finanzierung der AHV für die kommenden Jahre zwar gesichert, doch schon ab 2029 wird wieder ein negatives Umlageergebnis erwartet.
Was also ist zu tun?
Erhardt: Wir haben das Glück, länger zu leben. Damit muss aber auch unser Altersguthaben für mehr Jahre reichen. Aufgrund dieser Entwicklung gibt es im Verhältnis zu den Erwerbstätigen immer mehr Rentnerinnen und Rentner. Während 1970 auf einen Rentner fünf Erwerbstätigen kamen, beträgt der Altersquotient heute 1:3. Bis 2050 wird sich dieses Thema zusätzlich verschärfen: Bis dann kommen auf einen Rentner zwei Erwerbstätige.
«Andere Länder agieren diesbezüglich vorausschauender.»
Was meinen Sie damit?
Häner: Ein Beispiel: Der durchschnittliche Eintritt ins Arbeitsleben beginnt später – und auch die Teilzeitarbeit nimmt zu. Diese Aspekte werden heute noch zu wenig stark berücksichtigt. Auch sind die finanziellen Anreize, über das ordentliche Pensionsalter hinaus zu arbeiten, noch zu gering.
Wo sehen Sie weiteren Handlungsbedarf?
Häner: Auch in der zweiten Säule sind Reformen nötig. Theoretisch ist vorgesehen, dass in der Pensionskasse jede und jeder Einzelne für das eigene Rentenkonto spart. Aufgrund der gesetzlichen Garantie der Altersrenten, dem politisch festgelegten Mindestumwandlungssatz und tiefen Renditeerwartungen mussten jedoch die Erwerbstätigen in den vergangenen Jahren Finanzierungslücken schliessen, um die Renten der Pensionierten zu sichern. Dadurch entsteht eine systemfremde Solidarisierung zwischen den Generationen in der zweiten Säule. Bis jetzt ist es dem Parlament jedoch noch nicht gelungen, da eine mehrheitsfähige Lösung zu finden.
Zu den Personen
Dr. Melanie Häner leitet den Bereich Sozialpolitik des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) an der Universität Luzern. Sie absolvierte ihren Master und ihr Doktorat in Politischer Ökonomie an der Universität Luzern.
Tamara Erhardt schloss 2022 ihren Master in Politischer Ökonomie ab. Seit März 2022 arbeitet sie an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät als wissenschaftliche Assistentin von Prof. Dr. Christoph A. Schaltegger. Ausserdem ist sie als Doktorandin am IWP angestellt.
Lassen Sie uns zum Abschluss noch einen Blick in die Glaskugel werfen: Wird es das Dreisäulenmodell auch in 50 Jahren noch geben?
Häner: Ob das Schweizer System auch in Zukunft ein Erfolgsmodell bleibt, hängt im Wesentlichen davon ab, inwiefern es den skizzierten Herausforderungen begegnen kann. Nicht nur sind alle westlichen Länder von denselben Herausforderungen betroffen, auch stehen ihnen dieselben grundsätzlichen Reformansätze zur Verfügung: Einnahmenerhöhung, Ausgabenkürzung oder Anheben des Rentenalters. Durch eine Erhöhung des Rentenalters werden zum einen mehr Einnahmen generiert, weil die Menschen länger einzahlen. Zum anderen sinken die Ausgaben, da weniger lang Renten ausbezahlt werden. Nicht zuletzt deshalb enthalten die Vorsorgesysteme von zwei Dritteln der OECD-Länder automatische Anpassungsmechanismen, wie etwa die Koppelung des Rentenalters an die Lebenserwartung. Andere Überlegungen zielen eher darauf ab, die Anzahl Beitragsjahre statt das Rentenalter zu definieren, um den unterschiedlichen Erwerbsbiografien Rechnung zu tragen. Auch für die Schweiz wurden ähnliche Steuerungsmechanismen vorgeschlagen, bisher allerdings ohne Erfolg. Nach 50 Jahren Dreisäulenmodell dürfen wir also einerseits positive Bilanz ziehen. Andererseits müssen wir dafür sorgen, dass unsere Altersvorsorge auch in 50 Jahren noch ein Erfolgsmodell ist.
Das Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik an der Universität Luzern
Das IWP ist das Forschungsinstitut für Schweizer Wirtschaftspolitik an der Universität Luzern. Es will eine verlässliche, faktenbasierte Stimme in den aktuellen wirtschaftspolitischen Diskussionen sein. Mit seiner unabhängigen Forschung will das IWP Wissen schaffen und zur gesellschaftlichen Meinungsbildung beitragen. Damit nimmt es eine Brückenfunktion zwischen Wissenschaft und Gesellschaft ein. Das IWP entstand aus einer Kooperation zwischen der Universität Luzern und der Stiftung Schweizer Wirtschaftspolitik.