In­dus­trie 4.0 / In­ter­net of Things (IoT) als Emer­ging Risk

Kontext15. Juni 2022

Die vierte industrielle Revolution (Industrie 4.0) bezeichnet die Anwendung und Verknüpfung von Softwarekomponenten mit Produktionssystemen. Dies bietet grosse Chancen, birgt aber auch einige Risiken.

Mit der Anwendung und Verknüpfung cyber-physischer Systeme ist die Verbindung von Softwarekomponenten mit Produktionssystemen gemeint. Dies in logischer Fortsetzung der Nutzung von Dampfmaschinen und der Einführung von mechanischen Produktionsanlagen (1. industrielle Revolution), des Einsatzes von elektrischer Energie als Basis der Massenproduktion (2. industrielle Revolution) sowie der weitreichenden Automatisation durch den umfangreichen Einsatz von Informationstechnologie und Elektronik (3. industrielle Revolution).

In der vierten industriellen Revolution können sämtliche Phasen des Lebenszyklus eines Produktes erfasst werden – von der Idee für ein Produkt, der Entwicklung, Fertigung, Nutzung und Wartung bis hin zu Recycling und Entsor-gung. Massgeschneiderte Produkte und Produktelösungen können einfacher als bisher entsprechend den individuellen Kundenwünschen produziert werden, dies bei gleichzeitiger Senkung der Produktionskosten. Die Vernetzung der Unternehmen in der Wertschöpfungskette erlaubt es, die gesamte Wertschöpfungskette und nicht nur einzelne Produktionsschritte zu optimieren.

Durch die vermehrte Digitalisierung und Vernetzung der Wirtschaft ergeben sich mehr Schnittstellen zwischen ver-schiedenen Akteuren. Eine zentrale Rolle werden hier einheitliche Normen und Standards in den unterschiedlichen Industriesektoren, Fragen im Zusammenhang mit der IT-Sicherheit und dem Datenschutz sowie die zukünftige Arbeitsorganisation spielen.

Eine Weiterentwicklung ist der Einsatz von autonomen und selbstlernenden Maschinen und Robotern, bei dem sich die berechtigte Frage stellt, ob die aktuelle Rechtsordnung diesen neuen Entwicklungen genügend Rechnung trägt. Selbstlernende Maschinen und Roboter erhalten menschenähnliche Fähigkeiten, indem sie selbstständig Informationen analysieren und Entscheide treffen. Wieweit hier die geltende Haftpflichtgesetzgebung überarbeitet werden muss, wird im Europäischen Parlament aktuell diskutiert. Eine der Fragen ist, ob neben den natürlichen und juristischen Personen neu auch eine Kategorie der «elektronischen Person» («electronic person») mit eigener Rechts-persönlichkeit und Verantwortung/Haftpflicht eingeführt werden soll. Dies mag etwas nach Science-Fiction tönen, ist aber Realität.

Technologisch zusammenhängend mit der vierten industriellen Revolution ist die Verknüpfung von Gegenständen mit dem Internet (Internet of Things/IoT, «Allesnetz»), welche dadurch die Fähigkeit erhalten, selbstständig über das Internet miteinander zu kommunizieren (pervasive computing). So sollen immer kleinere und in Produkte eingebettete Mini-Computer/Sensoren/Chips die Menschen unterstützen, ohne dass sie abgelenkt werden. Beispiele hierzu sind: «Wearables», wie Fitness-Armbänder und -Uhren oder in den Körper eingepflanzte Sensoren und Chips, in Tiere eingepflanzte Biochip-Transponder, Reifendruckmesser sowie Kühlschränke, die das Ablaufdatum von markierten Nahrungsmitteln automatisch erkennen. Das Pendant im professionellen Bereich ist die Überwa-chung von Körperfunktionen (z. B. Schlafdauer) als eines der Elemente der Arbeitsplatzsicherheit.

Die flächendeckende Einführung von 5G Mobilfunk-Netzwerken wird die Evolution der IoT-Anwendungen fördern, da die Datenübertragung und die Netzstabilität erhöht werden. Auf der anderen Seite wird die Einführung von 5G und die damit verbundene Dichte von Antennen/Masten kontrovers diskutiert und könnte bei Vorliegen neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse in Bezug auf die Schädlichkeit von elektromagnetischen Feldern zu Haftpflichtansprüchen führen. Neben den Auswirkungen der elektromagnetischen Felder auf das persönliche Wohlbefinden, können auch die vorgesehenen Frequenzbandbreiten und die Leistung der Antennen zu Komplikationen führen, wie das Beispiel der Diskussion über die mögliche Störung von Flugkontrollsystemen in der Nähe von Flughäfen zeigt.

Die Verknüpfung von Produktionsabläufen mit dem Internet und eine Fernsteuerung von Produktionsabläufen ist ebenso Realität wie auch der vermehrte Einsatz von IoT-Devices im täglichen Leben. Hier ist an die Kontrolle und Fernsteuerung von Lebenserhaltungssystemen, Freizeitaktivitäten, Sicherheits- und Hausinstallationen zu denken.

 

Risikowahrnehmung

Die Möglichkeiten des Einsatzes des Internets und der damit verbundenen Risiken sind in ihrer Tragweite noch nicht vollständig bekannt. Der Ausfall der Internetverbindung oder eine Manipulation von Daten können ganze Wirtschaftszweige beeinflussen, wie dies durch Hackerattacken (siehe Cyber Risks) belegt ist. Die Einführung von 5G-Netzwerken wird kontrovers diskutiert, insbesondere in Bezug auf die potentiell gesundheitsgefährdenden Auswirkungen.
Die Umstellung von konventioneller Produktion auf Industrie 4.0 ist mit allfälligen Schnittstellenproblemen verbunden. Insbesondere in der Übergangsphase gilt es, die Überlappungen zwischen der herkömmlichen und der neuen, vernetzten und digitalen Produktion sicherzustellen. Ein Ausfall einer Produktionsanlage könnte schwerwiegende Konsequenzen haben. Einer der Gründe ist die stärkere Vernetzung von Komponenten, so dass nicht nur die direkt ausgefallenen Systeme versagen, sondern auch allfällig verknüpfte Zulieferer und Belieferte betroffen werden. «Bedingte Betriebsunterbrechungsdeckungen» könnten von einem solchen Schadenszenario häufig getriggert werden.

 

Haftpflichtrechtliche Relevanz

Die wesentlichen gesetzlichen Bestimmungen regeln die Haftung für fehlerhafte Produkte, die Verletzung von Datenschutzbestimmungen sowie die Haftung im Zusammenhang mit gefährlichen Aktivitäten (z. B. Einsatz von Motorfahrzeugen). Wie weit die aktuelle Haftpflichtgesetzgebung diesen Entwicklungen Rechnung trägt, wird in verschiedenen Organisationen (z. B. Parlament, Industrie, Versicherungswirtschaft) diskutiert.

 

Haftpflichtversicherungstechnische Relevanz

Betriebshaftpflichtversicherung
Im Vordergrund steht die Versicherung der Haftpflicht für Personen- und Sachschäden aus fehlerhaften Produkten, Dienstleistungen und gefährlichen Aktivitäten sowie der Arbeitgeberhaftpflicht. Führen fehlerhafte Produkte oder Teile davon zu Personen- und Sachschäden sind diese in der Betriebshaftpflichtversicherung grundsätzlich versichert. Der Einsatz von autonomen Systemen kann die Frequenz von Schadenereignissen verändern. Bedingt durch die hohen Investitionen in die neuen Technologien kann sich das Ausmass von Sachschäden erhöhen. Steigende Bedeutung hat auch die Versicherung der Kosten für den Rückruf fehlerhafter Produkte sowie Vermögensschäden aus Betriebsunterbrechung und Nutzungsausfall.

Berufshaftpflichtversicherung / Cyberversicherung
Fehler in der Programmierung von Software (z. B. fehlerhafte Algorithmen, Vulnerabilität für Hackerangriffe, Daten-lecks) können zu versicherten Personen-, Sach- und Vermögensschäden führen.

 

Zeithorizont für versicherte Ansprüche

Die vierte industrielle Revolution hat bereits begonnen und wird die Arbeitswelt in den nächsten Jahren massiv verändern. Der Einsatz von denkenden, selbstlernenden Maschinen und Robotern im privaten (z. B. Pflege-/Haushaltroboter) und geschäftlichen Bereich (z. B. automatische Steuerung von Maschinen und Produktionsabläu-fen) ist Realität. Die Vernetzung des täglichen Lebens mit dem Internet erfreut sich steigender Beliebtheit (z. B. Fitness-Armbänder).

Definition «Emerging Risks»

Neue Technologien und die Entwicklung der modernen Gesellschaft bieten neue Chancen, aber auch neue Gefahren. Solche neuartigen zukunftsbezogenen Risiken, die sich dynamisch entwickeln und eben nur bedingt erkennbar und bewertbar sind werden als «Emerging Risks» bezeichnet.  Der Begriff «Emerging Risks» ist nicht einheitlich definiert. In der Versicherungsbranche werden damit üblicherweise Risiken bezeichnet, welche sich als mögliche zukünftigen Gefahr mit grossem Schadenpotenzial manifestieren.