Au­to­no­me Mo­bi­li­tät als Emer­ging Risk

Kontext15. Juni 2022

Elektronische und sensorische Fahrhilfen sind heutzutage nicht mehr aus unseren Fahrzeugen wegzudenken. Neuere Fahrzeuge bieten immer mehr und raffiniertere Fahrhilfen und übernehmen in gewissen Situationen sogar komplett das Führen des Fahrzeugs.

Risikobeschreibung

Unter den Begriff «Autonome Mobilität» fallen zum einen autonomes Fahren und zum anderen die Verwendung von Drohnen. Die nachstehenden Ausführungen behandeln ausschliesslich das autonome Fahren. Die von Drohnen ausgehenden Risiken fallen nicht unter die vorstehende Definition von Emerging Risks.
Elektronische und sensorische Fahrhilfen sind heutzutage nicht mehr aus unseren Fahrzeugen wegzudenken. Neuere Fahrzeuge bieten immer mehr und immer raffiniertere Fahrhilfen und übernehmen in gewissen Situationen sogar komplett das Führen des Fahrzeugs. Es besteht somit nicht die Frage, ob die autonome Mobilität kommt, sondern lediglich in welchem Umfang und wann es so weit sein wird.
Autonome Mobilität wird grundsätzlich in fünf Levels unterteilt:

Autonome Mobilität_Grafik_DE

Die fünf Levels der Autonomen Mobilität

Level 0
Keine Automation. Der Fahrer fährt selbst (‘Driver only’), lediglich Warnvorrichtungen.
Beispiele: Kollisionswarnung, Spurhalte-Warnsysteme

Level 1
Bestimmte Assistenzsysteme helfen bei der Fahrzeugbedienung (z. B. Abstandsregeltempomat).
Beispiele: Automatische Abstandseinhaltung, Spurhalte-Warnsysteme

Level 2
Teilautomatisierung, kombinierte Lenk- und Beschleunigungs-Systeme.
Beispiele: Automatische Parksysteme, Spurhaltefunktionen, Stauassistent

Level 3
Automatisierter Modus, der Fahrer muss das Fahrzeug nicht dauernd überwachen. Das Fahrzeug übernimmt gewisse Funktionen selbstständig.
Beispiel: Der Fahrer muss «nur» noch in wenigen Situationen eingreifen. Der Fahrer wird akustisch und optisch gewarnt und aufgefordert, die Führung zu übernehmen.

Level 4
Vollautomatisierung, das System übernimmt dauerhaft das Führen des Fahrzeugs.
Beispiel: System führt solange das Fahrzeug, als es die Fahraufgaben bewältigen kann. Ist dies nicht der Fall, wird der Fahrer aufgefordert, die Führung zu übernehmen.

Level 5
Völlige Autonomie des Fahrzeugs. Das Fahrzeug übernimmt alle Funktionen.
Beispiel: Das Fahrzeug wird völlig autonom vom System geführt. Es ist ohne Lenkrad ausgestattet und kann sich fahrerlos bewegen.
 

Heutige Situation

Im heutigen Strassenverkehr bewegen sich vor allem Fahrzeuge mit Systemen der Levels 0-2. Hierbei handelt es sich nicht nur um Mittelklasse- und Oberklasse-Fahrzeuge, sondern vermehrt auch um Kleinwagen. Durch die rasch fortschreitende Entwicklung ist davon auszugehen, dass solche Systeme immer günstiger werden und sich diese deshalb in naher Zukunft in allen Klassen etablieren werden. Somit wird sich die Anzahl Fahrzeuge mit diesen Fahrhilfen kontinuierlich erhöhen.

Vereinzelt findet man bereits zum heutigen Zeitpunkt Fahrzeuge, welche ins Level 3 vorstossen. Zurzeit handelt es sich hierbei insbesondere um Fahrzeuge der Oberklasse bzw. Luxusklasse. Die Entwicklung im Bereich Automation schreitet aber rasch voran. Der Trend zu mehr Automation ist unaufhaltsam, so dass Level 3-Systeme wohl recht bald auch in den unteren Klassen anzutreffen sein werden.

Fahrzeuge mit Level 4- und 5-Systemen sind zurzeit noch nicht in unserem Strassenverkehr angekommen. Weltweit fanden und finden mehrere Versuche mit selbstfahrenden Fahrzeugen (Level 4 und/oder 5) statt. Dieser Trend wird sich sicherlich auch in den kommenden Jahren fortsetzen. Es wird wohl nur noch eine Frage der Zeit sein, bis Fahrzeuge mit Level 3-, 4- und 5-Systemen zu unserem normalen Strassenbild gehören werden.

Der massive Mangel an Lastwagenfahrern weltweit wird die Entwicklung von autonom fahrenden Lastwagen stark beeinflussen. Neben dem Testbetrieb auf öffentlichen Strassen, werden autonome Lastwagen (Level 5) bereits heute von einzelnen Unternehmen in der Praxis getestet (z. B. Walmart). Experten schätzen, dass die Lastwagen mit Level 4 bis 2030 in Serie produziert werden und das Strassenbild verändern werden.

Die aktuelle Strassenverkehrsgesetzgebung hinkt dieser Entwicklung zurzeit noch hinterher. Die aktuelle Rechtslage sieht vor, dass der Lenker jederzeit die Kontrolle über das Fahrzeug haben muss und in das Geschehen eingreifen kann. Sobald aber Fahrzeuge mit Systemen des Levels 4 und 5 auf unseren Strassen verkehren, wird das nur noch bedingt oder gar nicht mehr möglich sein. Die Strassenverkehrsgesetzgebung wird sich über kurz oder lang wohl den neuen Gegebenheiten anpassen müssen.

Risikowahrnehmung

Die autonome Mobilität wird in den Medien regelmässig thematisiert, wobei sich diese Berichte oft auf Level 4- und 5-Systeme fokussieren. Berichte über Level 1-3-Systeme sind wesentlich seltener zu finden. Das liegt wohl daran, dass sich viele dieser Fahrhilfen bzw. Assistenzsysteme in unseren Neuwagen bereits durchgesetzt haben und somit nicht mehr so ungewöhnlich sind.

Das vollständig autonome Fahren hat viele positive Aspekte. Studien gehen davon aus, dass sich die vollständig autonome Mobilität sowohl auf den Verkehrsfluss an sich als auch auf die Unfallzahlen und somit auf die Anzahl Strassenverkehrsopfer positiv auswirken wird. Zudem ist davon auszugehen, dass die vollständig autonomen Fahrzeuge insbesondere älteren Personen zu mehr Mobilität und somit auch zu mehr Lebensqualität verhelfen können.

Wie so oft werfen neue Technologien auch neuartige Risiken und Fragenkomplexe auf. Neben den haftpflichtrechtlichen Fragen drängen sich auch Fragen zur Anfälligkeit und Verwundbarkeit derartiger Systeme auf.

Insbesondere im Hinblick auf die durchschnittliche Nutzungsdauer eines Fahrzeugs muss man die Anfälligkeit der vollständig autonomen Mobilität bedenken. Wie schnell ist die verwendete Software derart veraltet, dass ein Software-Update nicht mehr ausreicht, um die Fahrsicherheit zu gewährleisten? Was passiert in Fällen, bei welchen sich der Halter weigert, ein notwendiges Update durchzuführen?

Zudem stellt sich die Frage, wie sicher die verwendeten Systeme sind. Ist der Schutz vor Cyberangriffen ausreichend? Können Hacker ein Fahrzeug derart manipulieren, dass es nicht mehr vollumfänglich funktionstüchtig ist, bzw. können Hacker die vollständige Herrschaft über das Fahrzeug übernehmen?

Ein weiterer Themenkomplex beschlägt die ethischen Aspekte. Einige kürzlich erschienene Artikel haben sich mit der Frage auseinandergesetzt, ob es ethisch vertretbar sei, dass eine Maschine gewisse Entscheidungen trifft. Ausgangslage war ein vollständig autonomes Fahrzeug mit unmittelbar bevorstehender Kollision. Die Kollision an sich war unvermeidlich. Es stellte sich aber in diesem theoretischen Beispiel die Frage, wie sich das System entscheidet. Soll es die Fahrzeuginsassen schützen und somit eine Kollision mit dem Hindernis – in diesem Fall ein Lastwagen – verhindern? Um die Kollision zu verhindern, müsste das Fahrzeug aber nach rechts oder links ausweichen. Beim Rechtsausweichen würde das Fahrzeug ein Rentnerpaar und beim Linksausweichen eine Mutter mit Kleinkind überfahren. Dies ist zugegeben ein theoretisches Beispiel, dennoch illustriert es die damit verbundenen Probleme. Es ist durchaus berechtigt, zu hinterfragen, ob eine solche ethische Frage wirklich einer Technologie überlassen werden darf. Wer müsste sich anschliessend für die getroffene Entscheidung rechtfertigen, und wer müsste diese verantworten?

 

Haftpflichtrechtliche Relevanz

Wie bereits erwähnt, sind die meisten Strassenverkehrsgesetzgebungen nicht auf die neue Technologie ausgerichtet bzw. berücksichtigen die autonome Mobilität noch nicht ausreichend. Mit Spannung darf die entsprechende Rechtsentwicklung beobachtet werden. Eine grundsätzliche Anpassung des restlichen Haftpflichtrechts, insbesondere der Produkthaftpflichtgesetzgebung, ist in der Schweiz nicht zu erwarten. Die geltenden Regelungen scheinen für die autonome Mobilität ausreichend zu sein.

 

Haftpflichtversicherungstechnische Relevanz

Es ist davon auszugehen, dass sich mit der Fortschreitung der Automation auch die Schäden von der Motorfahrzeughaftpflicht- zur Betriebshaftpflichtversicherung verschieben werden, sei dies durch Regressansprüche der Motorfahrzeugversicherung oder durch Direktansprüche. Je höher das Level der verwendeten Systeme, desto eher dürften sich auch die Direktansprüche an die Hersteller bzw. Zulieferer vermehren.

Im Bereich der autonomen Mobilität bzw. deren Hersteller ist vermehrt mit Produkthaftpflichtschäden zu rechnen. Dies dürfte sich nicht nur auf die Produkthaftpflicht der Automobilhersteller, sondern vermehrt auch auf die Produkthaftpflicht der Automobilzulieferer auswirken. Auch dürfte die Frequenz und der Umfang von Produktrückrufen – bedingt durch die Anfälligkeit der verwendeten Technologie und Software – steigen.

 

Zeithorizont für versicherte Ansprüche

Es wird wohl keinen eigentlichen Zeitpunkt für die Einführung der autonomen Mobilität geben. Vielmehr werden sich die entsprechenden Systeme schleichend in unseren Alltag integrieren. Mit dieser graduellen Einführung wird eine Verschiebung der Schäden von der Motorfahrzeug- zur Betriebshaftpflichtversicherung einhergehen. Bis völlig autonome Fahrzeuge zum normalen Strassenbild gehören, werden aber noch einige Jahre vergehen.

Definition «Emerging Risks»:

Neue Technologien und die Entwicklung der modernen Gesellschaft bieten neue Chancen, aber auch neue Gefahren. Solche neuartigen zukunftsbezogenen Risiken, die sich dynamisch entwickeln und eben nur bedingt erkennbar und bewertbar sind werden als «Emerging Risks» bezeichnet.  Der Begriff «Emerging Risks» ist nicht einheitlich definiert. In der Versicherungsbranche werden damit üblicherweise Risiken bezeichnet, welche sich als mögliche zukünftigen Gefahr mit grossem Schadenpotenzial manifestieren.