Un­der­wri­ting

16. Juni 2022

Im Kapitel 5 «Regulierung und Nachhaltigkeit» wurde das Risikomanagement in Bezug auf Nachhaltigkeitsrisiken der Versicherungsbranche thematisiert. Zu unterscheiden ist zwischen dem Risikomanagement auf Unternehmensebene und dem Zeichnen einzelner Risiken, dem Underwriting, das heisst der operativen Umsetzung des Risikomanagements. 

Das Eingehen von Risiken stellt dabei ein Wesensmerkmal von Versicherern dar. Versicherungsgesellschaften übernehmen Risiken und begleichen die finanziellen Folgen von Schäden Einzelner durch die Prämien aller Versicherten. Die Versicherten bilden dadurch eine Versichertengemeinschaft.

«Die Versicherungen haben mit ihrem Underwriting einen starken Hebel, um Unternehmen langfristig in Richtung Nachhaltigkeit zu lenken.»

Salomè Vogt, Ehemalige Leiterin Avenir Jeunesse bei Avenir Suisse

Im Rahmen der Nachhaltigkeit stellt sich die Frage, wie mit der Übernahme von Nachhaltigkeitsrisiken umzugehen ist. Welche Risiken, beispielsweise Folgen des Klimawandels, werden übernommen? Welche werden systematisch ausgeschlossen, weil diese nicht versicherbar sind oder aus ethischen Gründen respektive Reputationsgründen die Bereitschaft zu deren Übernahme nicht vorhanden ist?

 

Bewusstsein für Nachhaltigkeitsrisiken

Wenn ein Risiko versichert werden soll und das Produkt grundsätzlich die Übernahme des entsprechenden Risikos ermöglicht, führen Versicherer im individuellen Underwriting eine Risikoprüfung durch. Innerhalb dieser Prüfung wird eine Bewertung des konkret vorliegenden Risikos vorgenommen. Dieses Element des Underwritingprozesses konzentrierte sich bislang hauptsächlich auf die Tragbarkeit aus Sicht des jeweiligen Versicherers.

In den vergangenen Jahrzehnten sind Versicherungsgesellschaften zunehmend sensibler im Hinblick auf Reputationsrisiken geworden. Obwohl Versicherungsverträge im Nichtleben- sowie Rückversicherungsbereich in der Regel eine Vertragslaufzeit von einem Jahr haben, sind Verlängerungen und damit partnerschaftliche Beziehungen zwischen der Kundschaft und der Versicherungsgesellschaft über Jahrzehnte üblich.

Angesichts der Dauer von Versicherungsbeziehungen ist die Einschätzung des Reputationsrisikos anspruchsvoll, da nicht nur die aktuelle gesellschaftliche Wahrnehmung, sondern allgemein die mögliche Entwicklung in die Entscheidungsfindung einzufliessen hat.

Die Bedeutung von Risikoveränderungen wie auch von Reputationsrisiken im Underwritingprozess ist anerkannt. Einzelne Versicherer erstellen deshalb für ihre Mitarbeitenden Underwriting-Guidelines, um einen auf die Unternehmensstrategie abgestimmten einheitlichen Umgang mit Nachhaltigkeitsrisiken sicherstellen zu können.

Innerhalb der Schweizer Versicherungsbranche ergab eine Umfrage unter den Mitgliedgesellschaften des SVV, dass das Managen von Nachhaltigkeitsrisiken auf Stufe Senior Management grösstenteils Bestandteil der Nachhaltigkeitsagenda ist.

Nachhaltigkeitsrisiken werden zum Teil explizit formuliert und in bestehende oder zusätzliche Risikorahmenwerke integriert. Wo dies der Fall ist, wird die Verantwortung für Nachhaltigkeitsrisiken innerhalb der Fachbereiche der Unternehmen verankert und läuft über definierte Governanceprozesse, die verschiedene Abteilungen einbeziehen. Bei diesen Unternehmen liegt die Verantwortung auf höchster Stufe beim Verwaltungsrat.

 

Integration von Nachhaltigkeitskriterien

Die Versicherungsbranche ist durch unterschiedliche Geschäftsmodelle gekennzeichnet. Ein auf regionale Sach- und Vermögensrisiken spezialisierter Versicherer verfügt beispielsweise über eine stark von einer weltweiten Rückversicherung divergierenden Positionierung bezüglich Klimarisiken.

International tätige Versicherungsgesellschaften haben deshalb Nachhaltigkeitsrisiken zu einem früheren Zeitpunkt integriert als solche, die mehrheitlich national oder in einem begrenzten Umfang international tätig sind. Der angesprochene unterschiedliche Integrationsgrad führt zu einer unterschiedlichen Ausprägung der Berichterstattung sowie der systematischen Überprüfung von definierten Prozessen im Bereich Underwriting in Bezug auf Nachhaltigkeitsrisiken.

Internationale Versicherungsgesellschaften mit spezifischer Berichterstattung bewegen ihren Fokus hin zu einer ganzheitlichen Betrachtung von Nachhaltigkeitsrisiken, inklusive direkter finanzieller Auswirkungen.

Durch eine steigende Expertise der Versicherungsgesellschaften in Bezug auf Nachhaltigkeitsrisiken können zudem Geschäftspartner dazu angeregt werden, Verhaltensweisen und Prozesse, die als nicht nachhaltig eingestuft werden, zu ändern oder zu unterlassen.

Der Fokus der Privatversicherer, die nicht oder nur begrenzt international tätig sind und eine Integration schon vorgenommen haben, liegt eher auf der Reduktion von Reputationsrisiken im Zusammenhang mit Nachhaltigkeitsrisiken. Dabei ist neben dem Rückzug der jeweiligen Versicherung bestimmter Wirtschaftsaktivitäten mit potenziell hohen Nachhaltigkeitsrisiken vor allem die beratende Unterstützung der Transformation in eine kohlenstoffarme Wirtschaft von grosser Bedeutung.

Der vollständige Rückzug aus gewissen Geschäftsfeldern bleibt ein letztes Mittel, welches sparsam angewendet wird. Durch eine steigende Expertise der Versicherungsgesellschaften in Bezug auf Nachhaltigkeitsrisiken können zudem Geschäftspartner dazu angeregt werden, Verhaltensweisen und Prozesse, die als nicht nachhaltig eingestuft werden, zu ändern oder zu unterlassen.

Innerhalb dieser Transition gilt es, die Chancen und Risiken gleichermassen zu betrachten. So werden beispielsweise durch den wirtschaftlichen Wandel Arbeitsplätze in Sektoren mit hohen Risiken verlorengehen, wie zum Beispiel in Branchen mit Geschäftsmodelllen, die überwiegend auf fossilen Energien beruhen, derweil durch nachhaltige Geschäftsmodelle wie beispielsweise Cleantech neue Arbeitsplätze geschaffen werden.

 

Aktuelle Herausforderungen in der Branche

Das Underwriting und somit die Bewertung von Risiken ist ein vielschichtiger Prozess, der durch den zusätzlichen Fokus auf Nachhaltigkeit an Komplexität zulegt, da weitere Aspekte für eine zukunftsgerichtete, ganzheitliche Risikobetrachtung zu berücksichtigten sind. So sind Einschätzungen neuer klimafreundlicher Technologien vorzunehmen oder soziale Aspekte zu überprüfen.

Die erwünschte Datengrundlage ist dabei nicht immer direkt vorliegend. Im Produktmanagement wie im Underwriting der Versicherungsgesellschaften sind zur Integration von Nachhaltigkeitskriterien sowohl strategische wie operative Fragen zu beantworten. Die Antworten variieren je nach Geschäftsmodell beziehungsweise Geschäftsbereich und werden von den Versicherern individuell vorangetrieben.

Die Operationalisierung von Nachhaltigkeitskriterien stellt eine der grössten aktuellen Herausforderungen dar. So ist die Umsetzung im Grosskundensegment mit mittlerweile etablierten Leitlinien zu sensiblen Sektoren und Geschäftspraktiken zur Einhaltung grundlegender Menschen- und Arbeitsrechte oder zum Umgang mit dem Klimawandel im Allgemeinen klarer als im Retailbereich, zu dem zum Beispiel die Motorfahrzeug- und Gebäudeversicherungen zählen.

Hilfestellung bieten Datenanbieter, die Nachhaltigkeitsparameter zur Risikoklassifizierung zur Verfügung stellen sowie der Wissenstransfer über internationale Vereinigungen wie die UNEP Finance Initiative – PSI. Die PSI-Leitlinie zum Management von Umwelt-, Sozial- und Governance-Risiken im Nichtlebensversicherungsgeschäft wurde von Schweizer Versicherungsgesellschaften teilweise aufgenommen und kommt bei der Definition von Risiken vermehrt zur Anwendung. Dies ermöglicht den Versicherern, ihre Risikobereitschaft in Bezug auf Branchensegmente und Versicherungsdeckungen zu definieren.

 

Gastkommentar: UN-Initiative unterstützt die ESG-Integration in der Versicherungsbranche

Gastkommentar von Butch Bacani

Die Prinzipien für nachhaltige Versicherungen (Principles for Sustainable Insurance, PSI) werden als globales Rahmenwerk für die Versicherungsbranche durch den UN-Generalsekretär wie auch von CEOs grösserer Versicherer befürwortet.

Es handelt sich um eine weltweite Gemeinschaftsinitiative zur Stärkung des Beitrags der Versicherungsbranche als Risikomanager, Versicherer und Investor zum Aufbau von widerstandsfähigen, inklusiven und nachhaltigen Gesellschaften und Volkswirtschaften auf einem gesunden Planeten.

Sustainable Insurance zielt darauf ab, Risiken zu reduzieren, innovative Lösungen zu entwickeln, die Performance zu verbessern und dadurch zur ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Nachhaltigkeit beizutragen.

 

Strategischer Ansatz entlang der Wertschöpfungskette

Gemäss der PSI handelt es sich bei «Sustainable Insurance» um einen strategischen Ansatz, bei dem alle Aktivitäten entlang der Wertschöpfungskette einer Versicherung in einer verantwortungsvollen und zukunftsorientierten Weise erfolgen, indem Risiken und Chancen in Verbindung mit Fragen bezüglich Umwelt, Sozialem und Unternehmensführung (ESG – Environment, Social, Governance) identifiziert, bewertet, verwaltet und überwacht werden. 

Sustainable Insurance zielt darauf ab, Risiken zu reduzieren, innovative Lösungen zu entwickeln, die Performance zu verbessern und dadurch zur ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Nachhaltigkeit beizutragen.

Im Juni 2020 brachten die PSI den allerersten ESG-Leitfaden für das Nichtlebengeschäft heraus. Er enthält Beispiele für nachhaltige Denk- und Vorgehensweisen im Versicherungsbereich, die ein breites Spektrum an ESG-Themen abdecken: von Klimawandel, Degradierung von Ökosystemen, Umweltverschmutzung, Tierwohl und Tierversuchen über Kinderarbeit und kontroverse Waffen bis hin zu Bestechung und Korruption.

Der Leitfaden hebt acht Bereiche hervor, zu denen er mögliche Massnahmen für Versicherer zum Management von ESG-Risiken bei Versicherungsgeschäften mit Fokus auf Risikobewertung und Underwriting beschreibt.

Zu diesen Bereichen zählen die Entwicklung eines unternehmensinternen ESG-Ansatzes und der entsprechenden Risikobereitschaft, die Integration von ESG-Fragen in die Organisation, die Festlegung von Rollen und Zuständigkeiten bei ESG-Fragen, die Eskalation von ESG-Risiken an Entscheidungsträger, das Erkennen und Analysieren von ESG-Risiken und die Entscheidungsfindung und Berichterstattung zu ESG-Risiken.

 

Integration von ESG-Kriterien ins Geschäftsmodell

Ebenfalls zielt er darauf ab, das Bewusstsein für mögliche Vorteile einer ESG-Integration in das Geschäftsmodell von Versicherungen zu stärken, wie zum Beispiel Minderung von Reputationsrisiken, Umgang mit gesellschaftlichen Erwartungen, Erkennen des finanziellen Nutzens von Kunden mit starker ESG-Performance sowie Einbindung und Unterstützung von Kunden und Mitarbeitenden.

Zur Person
Butch Bacani ist Programme Leader der UN Environment Programme’s Principles for Sustainable Insurance 
Initiative