Wel­che Be­deu­tung ha­ben Be­schäf­tig­te für die Wert­schöp­fung?

Interview14. Dezember 2022

In der Studie zur volkswirtschaftlichen Bedeutung des Schweizer Finanzsektors von BAK Economics stehen 2022 die Beschäftigten im Fokus. Michele Salvi, Chefökonom des SVV, und Barbara Zimmermann-Gerster, Leiterin Bildungs- und  Arbeitgeberpolitik, unterhalten sich über die Erkenntnisse: Welchen Einfluss hat die Bildung auf die volkswirtschaftliche Leistung der Mitarbeitenden? Wie steht es um den Fachkräftemangel in der Branche? Und: Was hat die Zukunft für die Branche noch in petto?

Das Wirtschaftsforschungsinstitut BAK Economics veröffentlicht jeweils im November die aktualisierte Studie zur volkswirtschaftlichen Bedeutung des Schweizer Finanzsektors. Sie entsteht im Auftrag des Schweizerischen Versicherungsverbandes SVV und der Schweizerischen Bankiervereinigung SBVg und untersucht die gesamte Wertschöpfungskette der Versicherer und Banken in der Schweiz. In der Ausgabe vom November 2022 wurde der Fokus erstmals auf die Fachkräfte in der Branche gelegt. Der SVV nahm das als Anlass, zusammen mit Michele Salvi, seit 1. November 2022 Chefökonom des Branchenverbandes, und mit Barbara Zimmermann-Gerster, Leiterin Bildungs- und Arbeitgeberpolitik, darüber zu diskutieren, welche Bedeutung die Beschäftigten der Versicherungsindustrie für die Volkswirtschaft haben.

Fangen wir mal von vorne an: Welche Bedeutung haben die Beschäftigten für die Wertschöpfung der Branche?

Michele Salvi: Eine ganz zentrale – schliesslich sind es die Beschäftigten, die die Leistungen erbringen, die wir mit dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) messen. In der Finanzbranche sind das zusammengerechnet über 230’000 Vollzeitstellen, die fast 67 Milliarden Franken Wertschöpfung generieren. Und wenn man die Personen miteinbezieht, die den Angestellten der Finanzbranche zuarbeiten oder ihnen Produkte und Dienstleistungen zur Verfügung stellen, kommen weitere 192’000 Vollzeitstellen hinzu, die mit der Tätigkeit des Finanzsektors verbunden sind.

Barbara Zimmermann-Gerster: Wenn wir über volkswirtschaftliche Themen sprechen, erhalten wir meist grosse und wenig greifbare Zahlen wie diese. Oder wir sprechen vom – ebenfalls eher abstrakten und gesichtslosen – Finanzsektor, der Wertschöpfung generiert. Dass sich unsere Bedeutungsstudie dieses Jahr genauer mit den Beschäftigten auseinandergesetzt hat und damit den Fokus stärker auf die Mitarbeitenden legte, die im Finanzsektor arbeiten und den wirtschaftlichen Mehrwert produzieren, finde ich daher sehr wichtig. Schliesslich sind sie es, die die Branche ausmachen und die das Rückgrat einer erfolgreichen Versicherungswirtschaft bilden. Nur mit den richtigen Fachkräften in der passenden Anzahl ist das Versicherungsgeschäft erfolgreich und kann florieren.
 

Barbara und Michele unterhalten sich über die BAK Studie

Im Gespräch: Barbara Zimmermann-Gerster, Leiterin Bildungs- und Arbeitgeberpolitik, mit Chefökonom Michele Salvi.

Geht es dabei um die Arbeitsplatzproduktivität, die im Bericht gemessen wird? Die Versicherer haben in dieser Hinsicht ja einen Spitzenplatz im Finanzsektor, auch wenn sie 2021 erstmalig nach 20 Jahren gesunken ist.

MS: Ja, eigentlich schon: Die Arbeitsplatzproduktivität misst die durchschnittliche Wertschöpfung pro Vollzeitstelle. Also ganz vereinfacht gesagt heisst das zum Beispiel, dass je mehr Versicherungsfälle eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter in einer Arbeitswoche bearbeiten kann, desto höher ist die Arbeitsproduktivität.
Aber genauso spielen auch das Businessmodell und die wirtschaftliche Situation eine Rolle: Die Wertschöpfung hängt von der Höhe der eingenommenen Prämien und Vermögenseinkommen sowie den erbrachten Leistungen ab. Je tiefer die Einnahmen beziehungsweise je höher die Schadenleistungen, desto tiefer ist die Wertschöpfung und – bei gleichbleibendem Personaleinsatz – auch die Produktivität.

Gerade das Jahr 2021 zeigt das sehr anschaulich: Denn in diesem Jahr verzeichneten die Versicherer aufgrund der Auswirkungen der Coronapandemie und wegen Naturkatastrophen einen Rückgang der realen Bruttowertschöpfung. Gleichzeitig hat die Anzahl Beschäftige zugenommen. Folglich können wir 2021 einen Rückgang in der Arbeitsproduktivität beobachten.

Ein Jahr allein ist allerdings nicht sehr aussagekräftig. Relevanter ist da die mittel- und langfristige Entwicklung der Produktivität. Und hier kommt dann zusätzlich auch die eingesetzte Technologie ins Spiel, bei der Versicherer sehr fortschrittlich sind. So hatten zum Beispiel die Investitionen in die Digitalisierung einen grossen Einfluss auf die Produktivität der Branche. Die hat in den vergangenen 20 Jahren daher entsprechend stabil zugelegt.

 

«Investitionen in die Digitalisierung hatten einen grossen Einfluss auf die Produktivität in der Branche.»

Michele Salvi

Die Studie zeigt auch, dass das Bildungsniveau im Finanzsektor in den letzten zehn Jahren zugenommen hat. Ist das auch ein Auslöser für die gestiegene Arbeitsplatzproduktivität?

MS: Ja, absolut, Bildung ist auch ein wichtiger Faktor für die Produktivität. Denn je mehr Spezialwissen Mitarbeitende haben, desto komplexere Aufgaben können sie übernehmen, die auch entsprechend viel zur Wertschöpfung beitragen. In der Versicherungsbranche ist das seit jeher gegeben. Und mit der Digitalisierung und der zunehmenden technologischen Komplexität hat sich das noch akzentuiert.    

BZ: In diesem Zusammenhang ist es wichtig festzuhalten, dass das Spezialwissen nicht gleichbedeutend mit einem Hochschulabschluss  ist. In der Studie wird zwar erhoben, wie hoch der Anteil der Beschäftigten ist, die eine Hochschulbildung haben. Relevantes Spezialwissen tragen jedoch auch viele Mitarbeitende bei, die beispielsweise eine Lehre absolviert und spezielle Weiterbildungen abgeschlossen haben. Unsere Fachkräfte haben ganz unterschiedliche Bildungshintergründe – und das ist auch gut so.

«Unsere Fachkräfte haben ganz unterschiedliche Bildungshintergründe – und das ist auch gut so.»

Barbara Zimmermann-Gerster

Die Ökonomen von BAK Economics stellen fest, dass es dem Finanzsektor deutlich leichter fällt, diese Fachkräfte zu rekrutieren.

BZ: Wir haben es sicher einfacher als andere Branchen, aber der Fachkräftemangel ist auch bei uns spürbar. Ganz egal, ob wir Versicherungsmathematiker suchen oder IT-Fachleute: Wir müssen uns um gute Fachkräfte bemühen. Das ist eine Situation, die wir gerne genauer verstehen möchten. Für nächstes Jahr ist daher eine detaillierte Studie geplant, in der wir die Fachkräftesituation in der Versicherungsbranche genauer analysieren.  

Schon heute unternimmt die Branche viel, um dem Fachkräftemangel die Stirn zu bieten. Dazu gehören beispielsweise das Aufzeigen der Branchenattraktivität und der Einsatz für passende Rahmenbedingungen in der Arbeitswelt und der Bildungspolitik. Ganz konkret setzen sich die Versicherungsgesellschaften als Arbeitgebende für ihre Fachkräfte ein, indem sie zeitgemässe Arbeitsbedingungen anbieten und in die Aus- und Weiterbildung ihrer Mitarbeitenden investieren. Auch der SVV engagiert sich mit diversen Initiativen und Projekten für die Gewinnung und Entwicklung von Fachkräften. So wurde die Plattform www.startsmart.ch lanciert, auf der die ganze Bandbreite der Lehrberufe in der Versicherungsbranche aufgezeigt wird, um Jugendliche für einen Beruf in der Versicherungswirtschaft zu begeistern. Weiter investiert die Branche in die Kompetenzen der Zukunft und die Arbeitsmarktfähigkeit der Mitarbeitenden. Mit dem Selbstanalysetool InsurSkills können sie sich mit ihren eigenen Kompetenzen auseinandersetzen und diese weiterentwickeln.

Barbara und Michele studieren die Studie

Michele Salvi und Barbara Zimmermann-Gerster sind sich einig: Nur mit den richtigen Fachkräften in der passenden Anzahl ist das Versicherungsgeschäft erfolgreich und kann florieren.

Nach einigen Jahren, in denen immer weniger Menschen in der Versicherungsbranche gearbeitet haben, gab es in den letzten Jahren wieder ein Stellenwachstum. Wie ist das zu erklären?

MS: Anfang der 2000er-Jahre gab es eine Umstrukturierungsphase in der Versicherungsbrache, bei der einige Jobprofile, wie etwa die Maklertätigkeit, ausgelagert wurden. Diese Stellen werden daher neu bei den Finanzdienstleistern gezählt. Auch aufgrund der Digitalisierung konnten einige Aufgaben effizienter erledigt und operative Abläufe optimiert werden, sodass insgesamt weniger Personal benötigt wurde. In den vergangenen Jahren hat sich der Trend jedoch umgekehrt.

BZ: Das liegt unter anderem daran, dass die Anforderungen aufgrund der zunehmenden Regulierung gestiegen sind und so mehr Stellen im Compliance-Bereich oder auch im Themenfeld von Sustainable Finance besetzt werden müssen. Auch die Digitalisierung schafft interessanterweise wiederum neue Stellen, da die neuen Prozesse von Fachkräften entworfen und gemanagt werden müssen.

«Sicher ist: Versicherer sind und bleiben eine relevante und zukunftsträchtige Branche.»

Barbara Zimmermann-Gerster

Der wirtschaftliche Ausblick ist aktuell eher trüb – die Inflation erhöht die Kosten der Schadensfälle, in der zweiten Säule muss der Umwandlungssatz gesenkt werden. Aber dennoch wird den Versicherern ein solides Wachstum vorausgesagt. Warum?

MS: Die Nachfrage nach Versicherungen ist grundsätzlich stabil. Zudem werden für die Schweizer Wirtschaft in den nächsten Jahren weiterhin Aufholeffekte prognostiziert, die für eine dynamische Entwicklung des Markts sorgen. Zusammen mit dem allgemein erwarteten Bevölkerungswachstum der Gesellschaft wirkt sich dies auch positiv auf die Versicherungsbranche aus.  

Also erwartet die Versicherungsbranche eine rosige Zukunft? 

MS: Ganz so einfach wird es wohl leider nicht. Zum Beispiel mit Blick auf die Inflation bleibt es weiterhin spannend für die Branche: Da wird es davon abhängen, wie gut die Schweiz die Situation auch weiterhin im Griff haben wird. Das Gleiche gilt für die Altersvorsorge. Hier hängt auch viel davon ab, wie gut die Reform der beruflichen Vorsorge über die Bühne gebracht wird. Und auch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen haben viel Einfluss darauf, wie gut die Versicherungsbranche ihre volkswirtschaftliche Verantwortung wahrnehmen kann. Nicht zuletzt beschäftigt uns auch das Thema Nachhaltigkeit und darunter insbesondere der Klimawandel stark. Auch wenn wir Grund haben, mit Zuversicht in die Zukunft zu schauen, ist das kein Grund, sich entspannt zurückzulehnen.

BZ: Ich sehe das ähnlich, auch wenn die Branche auf den ersten Blick hinsichtlich Fachkräftemangel nicht schlecht dasteht. Und zwar in erster Linie, weil die Versicherer schon immer viel in die Mitarbeitenden und in die Arbeitsbedingungen investiert haben. Damit das so bleibt, muss sich die Branche auch weiterhin gut positionieren und für gute Rahmenbedingungen sorgen. Es hängt viel davon ab, wie attraktiv die Versicherungsindustrie für Fachkräfte bleibt. Da werden wir zwar viel zu tun haben, aber ich bin zuversichtlich. Denn sicher ist: Die Versicherungswirtschaft ist und bleibt eine relevante und zukunftsträchtige Branche.
 

Über die Studie

Die von BAK Economics erhobene Bedeutungsstudie zur volkswirtschaftlichen Bedeutung des Schweizer Finanzsektors erscheint jährlich jeweils im November. Sie entsteht im Auftrag des Schweizerischen Versicherungsverbandes SVV und der Schweizerischen Bankiervereinigung (SBVg). Im Fokus stehen die wichtigsten Kennzahlen zur Finanzbranche wie die Wertschöpfung, die Arbeitsplätze und das Steueraufkommen.