«Die Co­ro­na­kri­se stellt das Ver­hält­nis zwi­schen den Ge­ne­ra­tio­nen auf die Pro­be»

Interview15. Januar 2021

Wie hat die Schweiz das Corona-Jahr 2020 gemeistert? Und was bleibt von der Krise, wenn die Pandemie dereinst überwunden ist? Im zweiten Teil des von Daniel Schriber geführten Gesprächs mit Katja Gentinetta erläutert die Politikphilosophin, welche Lehren die Schweiz aus der Coronakrise ziehen – und weshalb sich die Gesellschaft in Zukunft verstärkt mit dem Tod befassen sollte.

Katja Gentinetta, die Massnahmen gegen das Coronavirus sind in den verschiedenen Ländern der Welt sehr unterschiedlich ausgefallen. Wie ist das aus politikphilosophischer Sicht zu erklären?

Grundsätzlich herrscht in den meisten Ländern eine weitgehende Übereinstimmung zwischen politischem System und der politischen Kultur. Und entlang dieser Systeme und Kulturen waren auch die Differenzen im Umgang mit Corona zu beobachten.

Politikphilosophin Katja Gentinetta

Blickt aus philosophischer Perspektive auf das Corona-Jahr zurück: Katja Gentinetta.

Welche Unterschiede stellten Sie dabei fest?

Die Schweiz setzte auf Eigenverantwortung und Dezentralität. In Frankreich hingegen gab Paris klare Direktiven durch und demonstrierte harte Entschlossenheit. Nicht nur wurde das Arbeiten von zu Hause aus oder der Bewegungsradius klar vorgegeben; jegliche «Verschiebung» im Land musste via Formular erklärt werden. Das läge uns Schweizerinnen und Schweizern fern. Umgekehrt waren in Frankreich ab dem Sommer Tests in jeder Apotheke möglich – dieses flächendeckende Angebot gibt es bei uns heute noch nicht. Beeindruckend war auch die Reaktion der Italiener auf die Krise.

Inwiefern?

Bergamo war im Frühjahr der sehr traurige, erste Corona-Hotspot Europas. Wir alle erinnern uns an die schrecklichen Bilder aus den dortigen Krankenhäusern. So furchtbar die Situation in der Lombardei auch war, so unerschütterlich schien der Frohsinn der Italiener zu sein. Ihren Lebensmut lassen sich unsere Nachbarn bis heute nicht nehmen.

«Die Krise offenbarte die schlechteste Seite des Populismus: seine Abwehr gegen Fakten und seine Selbstgerechtigkeit.»

Sie stellten eine weitgehende Übereinstimmung zwischen politischem System und der politischen Kultur fest. Gibt es auch Ausnahmen?

Ja – ich denke an England und die USA. Bei beiden Ländern handelt es sich eigentlich um solide Demokratien. Die prononcierten Populisten an der Regierung – Donald Trump und Boris Johnson –reagierten jedoch weder zeitgerecht noch umsichtig. Anders formuliert: Die Krise offenbarte die schlechteste Seite des Populismus: seine Abwehr gegen Fakten und seine Selbstgerechtigkeit. Spätestens jetzt dürften die meisten Menschen erkannt haben, dass sich mit der Verdrehung von Fakten und saloppen Sprüchen keine Krise bewältigen lässt.

Die Versicherungswirtschaft spricht im Zusammenhang mit einer Pandemie von einem Grossrisiko, das nur schwer versicherbar ist. Müssen wir uns darauf einstellen, dass es in Zukunft mehr solche Emerging Risks geben wird, denen sich die Gesellschaft stellen muss?

Mit Sicherheit! Zum einen können wir nicht darauf zählen, dass alles immer gut weitergeht wie bisher. Zum anderen kennen wir unbekannte Risiken nicht; das liegt in der Natur der Sache. Neue Risiken stellen natürlich auch die Versicherungsgesellschaften vor Herausforderungen – wie sie das in der Geschichte immer taten. Nebst neuen Versicherungsmodellen – also beispielsweise einem Pandemiepool – könnte ich mir vorstellen, dass in Zukunft die Prävention und die Vorsorge noch weiter an Bedeutung gewinnen werden. Und dies beginnt bei jedem Einzelnen.

Corona hat zu verhärteten Fronten innerhalb der Gesellschaft geführt. Wie beurteilen Sie die Folgen der Pandemie auf unser Zusammenleben?

Es besteht leider die Tendenz, dass in immer breiteren Bevölkerungskreisen Entscheide der Regierungen nicht ernst genommen oder ihnen gar böse Absichten unterstellt werden. Solche Vorwürfe werden über Verschwörungstheorien in den sozialen Medien gezielt geschürt und verbreitet. Ihren Erfolg halte ich für eine der schwierigsten Entwicklungen in unserer Gesellschaft.

Wie lässt sich diese Entwicklung eindämmen?

Diese Frage stelle ich mir immer wieder. Tatsache ist, dass wir in unserem Land eine solide Schulbildung geniessen. Offenbar aber schützt selbst diese viele Menschen nicht davor, an haarsträubende Verschwörungstheorien zu glauben. Es irritiert mich sehr, wie schnell sich Leute in solche Bewegungen hineinreissen lassen. Eine andere Frage beschäftigt mich jedoch noch mehr.

Schiessen Sie los.

Die Bewältigung der Coronakrise stellt das Verhältnis zwischen den Generationen auf eine harte Probe.

Inwiefern?

In diesen Monaten wird sehr viel getan, um die Älteren zu schützen. Die Schuldenlast, die diese Massnahmen zur Folge haben, wird jedoch von den Jungen getragen werden müssen. Das kann zu Spannungen führen – vor allem dann, wenn andere, zwischen den Generationen auszuhandelnde Verträge nicht an die Realitäten angepasst werden.

«Dass gegenwärtig über eine zusätzliche Umverteilung in der zweiten Säule nachgedacht wird, ist nicht nur systemfremd, sondern entbehrt jeglicher Sachlogik.»

Wie zum Beispiel?

Ich spreche von der Altersvorsorge, in der wir seit Jahren auf eine Anpassung an die gestiegene Lebenserwartung warten. Aus meiner Sicht ist es nun höchste Zeit, dass wir uns dieses Problems annehmen. Dass gegenwärtig über eine zusätzliche Umverteilung in der zweiten Säule nachgedacht wird, ist nicht nur systemfremd, sondern entbehrt jeglicher Sachlogik.

Wir werden immer älter …

… und haben darüber hinaus immer mehr medizinische Möglichkeiten. Im Grunde haben die Corona-Massnahmen vor allem zwei Ziele: die Älteren, Vulnerablen, zu schützen und das Gesundheitswesen nicht zu überlasten, um keine Triage vornehmen zu müssen – das heisst zu entscheiden, wem ein Platz in der Intensivstation zugestanden wird und wem nicht. Mit Corona ist der Tod wieder mitten in unser Leben getreten – und fordert uns auf, sich mit ihm zu befassen.

Welche Folgen hat dies auf die Gesellschaft?

Sich mit dem Tod zu befassen, bedeutet, sich mit dem Leben zu befassen. Die Philosophie kennt eine lange Tradition dieser Reflexion. Für Sokrates beispielsweise trat der Tod angesichts der Frage, ob wir ein gutes – für ihn hiess das: moralisches – Leben führen, in den Hintergrund. Unter einem guten Leben verstehe ich heute ein sinnvolles Leben. Und dieses bemisst sich etwa daran, ob wir unsere Talente und Möglichkeiten dazu genutzt haben, etwas Sinnvolles zu tun, das unseren Idealen gerecht wird, aber auch anderen zugutekommt, mittelbar oder unmittelbar. Das kann eine gemeinnützige Tätigkeit genauso sein wie ein unternehmerischer Erfolg. Uns diese Frage zu stellen und eine Antwort zu geben, kann die Angst vor dem Tod nicht nehmen, aber vielleicht abschwächen.

Was schlagen Sie vor?

Letztlich geht es um die Frage, was uns wichtig ist. Beispielsweise haben wir die Möglichkeit, im Rahmen einer Patientenverfügung zu formulieren, ob uns lebensverlängernde Massnahmen oder ein eigenständiges Leben wichtig sind. Solche Vorentscheide entlasten die Institutionen und auch die Angehörigen.

Das sind einschneidende Fragen. Könnte es auch sein, dass die Verarbeitung der Krise dazu führt, dass wir als «bessere» Gesellschaft daraus hervorgehen?

Die Frage ist, was man unter «besser» versteht; da dürften die Meinungen auseinandergehen. Tatsache ist, dass uns die Coronakrise bezüglich dieser Fragen gelehrt hat, dass Gesundheit und Schutz ihren Preis haben, entweder in Form von Geld oder von Verzicht. Und dass wir stets abwägen und uns entscheiden müssen.

Zwischen?

Zwischen vollkommener Bewegungsfreiheit, beispielsweise der Einhaltung gewisser Schutzmassnahmen, und der gesundheitlichen Versorgung. Wir können nicht von allem das Maximum haben und nicht dafür bezahlen. Es reicht zum Beispiel nicht, sich auf den Balkon zu stellen und dem Pflegepersonal zu applaudieren. Diese Aktion im Frühling war wunderbar – im Herbst aber, als es den Applaus noch stärker gebraucht hätte, klatschte niemand mehr. Im Übrigen bräuchte es auch nicht Applaus, sondern angemessenere Arbeitsbedingungen.

Was haben eigentlich die Medien in der Coronakrise geleistet?

Die Medien haben viel Kraft darauf aufgewendet, schnell zu sein und ihren Konsumenten einen möglichst umfassenden Überblick über die Situation zu bieten. Auch wenn den Medien immer wieder «Regierungsgläubigkeit» vorgeworfen wurde, wurde nach meiner Wahrnehmung recht ausgeglichen und auch kritisch berichtet. Ich hätte mir jedoch mehr Verhältniszahlen gewünscht – Informationen also, die helfen, die nackten Fakten einzuordnen. Etwa jüngst wieder, als von einer Übersterblichkeit in der Altersgruppe «65+» die Rede war, obwohl die Daten des BAG diese Kategorie gar nicht aufführen und die Übersterblichkeit eindeutig auf die Altersgruppe «80+» fällt. Die Korrelation zwischen der Risikogruppe und dem Rentenalter, das ja längst nicht mehr mit unserer gesunden Lebenserwartung übereinstimmt, hat mich von Beginn an irritiert und bedürfte – gerade mit Blick auf die Situation der Altersvorsorge – dringend einer sachlichen Einordnung.

«Corona ist ein Stück weit vielleicht auch als Grenze zwischen gestern und morgen zu betrachten.»

Welche langfristigen Folgen hat die Coronakrise auf die Schweiz und die Welt?

Wir haben dieses Jahr so viel Unvorhergesehenes und so viele Extremsituationen erlebt, wie wir es wohl nie für möglich gehalten hätten. Denken Sie nur an die Globalisierung: Diese wurde gleichsam von einem Tag auf den andern gestoppt. Insofern ist Corona ein Stück weit vielleicht auch als Grenze zwischen gestern und morgen zu betrachten.

Heisst das, alles wird anders?

Nein. Wichtig scheint mir aber, dass wir diese Krise, so abgegriffen die Redewendung ist, als Chance verstehen. Wenn wir diese Pandemie irgendwann überstanden haben, stehen wir vor einer Wahl: Wollen wir wieder eins zu eins zurück zu unserem alten Alltag und alles so handhaben, wie es immer war – oder wollen wir zumindest teilweise Änderungen vornehmen?

Was sollten wir Ihrer Meinung nach tun?

Unsere wichtigste Aufgabe ist es, dass wir aus dem Erlebten unsere Lehren ziehen und das, was sich nicht bewährt hat, überdenken. Tatsache ist, dass uns die Coronakrise einiges gelehrt hat: Dass wir uns rasch anpassen können; dass die Not Dinge möglich und selbstverständlich macht, die zuvor abgewehrt wurden – ich erwähne noch einmal das Homeoffice; und dass wir einseitige Abhängigkeit – etwa bezüglich Medikamenten aus Asien – vermeiden sollten. Ausserdem hat die Digitalisierung einen grossen Sprung gemacht – auch im Guten: Die SwissCovid-App hat gezeigt, dass die digitalen Lösungen nützlich sein können, ohne persönliche Daten zu sammeln. Das ist ein Meilenstein, von dem aus jegliche Weiterentwicklung zu denken ist.

Sie haben einmal geschrieben: «Das Krisenmanagement ist vielfach einfacher als das Nachkrisenmanagement.» Wie gelingt uns ein erfolgreiches Nachkrisenmanagement?

Während einer Krise liegen die Prioritäten auf dem Tisch: Wo Not ist, muss eingegriffen werden, alles andere kann warten. Im Nachkrisenmanagement gilt es, das Erfahrene aufzuarbeiten, auch kritisch, und aus der Erfahrung zu lernen. Die Welt wird verschuldeter sein, die Schweiz ebenfalls. Wir müssen uns darauf vorbereiten, dass die wirtschaftliche Krise noch lange nicht zu Ende ist. Wir werden gezwungen sein, Prioritäten zu setzen. Das bedeutet, dass der Staat, aber auch jeder Einzelne sich überlegen muss, was ihm wichtig ist – und worauf er notfalls verzichten kann.

Was bleibt sonst noch vom Jahr 2020?

Dass es auch hierzulande normal sein kann, eine Maske zu tragen – in der nächsten Grippesaison sollten wir uns daran erinnern! Und hoffentlich, dass regelmässiges Händewaschen wieder eine Selbstverständlichkeit ist – immerhin war dies einmal die bahnbrechende Massnahme gegen die hohe Kindersterblichkeit.

Und was ist mit dem Händedruck?

Da bin ich mir ehrlich gesagt nicht so sicher. Viele werden ihn als deutliches Zeichen der Begrüssung vermissen. Vielleicht ist dann zumindest die Frage erlaubt: Wann haben Sie die Hände das letzte Mal gewaschen? (Lacht)

Zur Person:

Katja Gentinetta ist promovierte politische Philosophin. Sie arbeitet als Publizistin, Universitätsdozentin und Verwaltungsrätin. Sie schreibt als Wirtschaftskolumnistin in der «NZZ am Sonntag» und moderierte zusammen mit Chefredaktor Eric Gujer während vier Jahren die Sendung «NZZ TV Standpunkte». Sie ist unter anderem Mitglied des IKRK und begleitet Unternehmen und Institutionen in ihrer strategischen Entwicklung und bei gesellschaftspolitischen Herausforderungen. Sie publiziert und referiert im In- und Ausland regelmässig zu gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Themen. Katja Gentinetta ist 52 Jahre alt und wohnt mit ihrem Mann in Lenzburg.