«Un­se­re Un­ter­schie­de sind un­se­re Stär­ke»

Interview16. November 2021

Der Zusammenhalt in der Schweiz basiert auf einem konstruktiven, offenen Dialog zwischen den Landesteilen und auf politischer Ebene. Jean-Daniel Laffely erläutert im Interview, welche Bedeutung die Solidarität für die Branche hat und weshalb Bildung und Nachhaltigkeit keine leeren Schlagworte sind.

Jean-Daniel Laffely, wir leben in einem multikulturellen Land. Welche Rolle spielt die Westschweiz für die Versicherungsbranche?

In unserem multikulturellen Land sind unsere Unterschiede unsere Stärke. Derzeit ist es notwendiger denn je, sich auszutauschen und in allen Sparten zusammenzuarbeiten. Für den erfolgreichen Umgang unserer Branche mit den aktuellen und künftigen grossen Veränderungen nenne ich gerne die Bildung als Beispiel und Schlüsselfaktor. Ich wünsche mir ein starkes Engagement des SVV und seiner Mitglieder zur Förderung einer hochkarätigen Ausbildung in allen Regionen der Schweiz.

Jean-Daniel Laffely, CEO Vaudoise

Zeigt auf, wie in Unternehmen Solidarität mit wirtschaftlichem Erfolg vereinbart werden kann: Jean-Daniel Laffely, Generaldirektor und CEO der Vaudoise.

Was heisst das konkret?

In einer Zeit, in der wir neue Arbeitsformen einführen, ist dieser Aspekt von grundlegender Bedeutung. Kompetenzen und Fähigkeiten sind in der ganzen Schweiz vorhanden; man muss sie nur entdecken und nutzen. Die Versicherungswelt muss derzeit einen Mangel an Talenten im Bereich der technischen Versicherungsberufe, aber auch im Bereich «neue Technologien und Digitalisierung» bewältigen. Daher ist es wichtig, dass der Schweizer Markt als Ganzes für unsere Branche angemessene Bedingungen bieten kann.

«In Lausanne muss die Nähe zu den Hochschulen wie der ETHL, genauso wie der Kontakt zur Welt der Lehrberufe gepflegt werden.»

Und wie erreichen wir das?

Wir müssen unsere jeweiligen finanziellen Mittel für die Nachwuchsausbildung einsetzen. In Lausanne muss die Nähe zu den Hochschulen wie der ETHL einen Anstoss verleihen, doch nicht nur das. Wir müssen auch den Kontakt zur Welt der Lehrberufe und zu den verschiedenen Bildungseinrichtungen pflegen, die im Bereich Privatversicherung notwendig sind. Zwar werden uns Big Data und der digitale Wandel bei der Weiterentwicklung der Kernaufgaben im Versicherungswesen helfen, doch es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir unsere derzeitigen und zukünftigen Mitarbeitenden begleiten und ihnen fundierte Ausbildungsmöglichkeiten anbieten.
 

In welchem Bereich ist der Fachkräftemangel am grössten?

Ich denke da vor allem an die Versicherungsberater, an denen es immer mangelt. Sie müssen die Technik beherrschen, aber auch die Soft Factors (Unternehmenskultur, Ethik, Governance). Wir müssen sie entsprechend schulen. Neben den Kernaufgaben haben wir auch einen starken Bedarf an digitalen Kompetenzen, hauptsächlich in den Bereichen soziale Netzwerke und Kommunikation, aber auch an ausgewiesenen Technologie-Experten. Neue Talente, neue Berufe, digitaler Wandel: Wir müssen unsere Kräfte mehr denn je bündeln, um unsere Versicherungsgesellschaften als solide, attraktive Arbeitgeber auf dem Schweizer Markt zu positionieren.
 

Wie sieht es auf politischem Gebiet aus? Lässt es sich gut leben in der Romandie?

Natürlich lässt es sich in der Romandie gut leben, wie auch in allen anderen Regionen der Schweiz. Ich wurde in Morges geborgen, ging dort zur Schule und leben heute noch mit meiner Familie in der Gegend.

Dieser Eindruck wird allerdings seit einigen Jahren durch den zu beobachtenden Polarisierungstrend der politischen Landschaft in Frage gestellt. Dies gilt für die Politik, aber auch allgemeiner für die Gesellschaft. Leider zeigt dies die aktuelle Krise.

«Uns Privatversicherern ist an einem gesunden Dialog auf politischer Ebene sehr gelegen.»

Diese Polarisierung führt uns nicht in die richtige Richtung. Wir müssen den Dialog, der in der Vergangenheit immer eine Stärke unseres Landes war, wieder aufnehmen. Uns Privatversicherern ist an einem gesunden Dialog auf politischer Ebene gelegen. Wir müssen zu Themen wie Nachhaltigkeit, Grossrisiken oder Altersvorsorge angehört werden. Es muss ein konstruktiver Austausch stattfinden, um eine stabile, glaubwürdige Partnerschaft zwischen dem öffentlichen und privaten Bereich aufzubauen.
 

Wo sehen Sie Möglichkeiten für eine Partnerschaft zwischen Staat und Privatversicherern?

Ein aktuelles Beispiel dafür ist die wünschenswerte Gründung eines Pandemiepools. Die Schweiz verfügt zwar über ein Pandemiegesetz und hat bei der Entschädigung der Unternehmen und Privatpersonen, die durch den Lockdown Einbussen erlitten, ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt. Doch wir müssen feststellen, dass wir nicht optimal vorbereitet waren. Gemeinsam müssen wir nun die Lehren aus diesen Ereignissen ziehen. Deshalb haben der SVV und seine Mitglieder zusammen mit der Verwaltung Lösungsvorschläge für den Bund erarbeitet.

Beim Ausbruch einer weltweiten Pandemie gelangen wir aufgrund der Unwirksamkeit der Risikodiversifizierung für Erst- und Rückversicherer an die Grenzen der Versicherbarkeit. Der Staat muss daher die Finanzierung der Hilfsgelder für die Geschädigten in der Wirtschaft gewährleisten. Die Privatversicherer müssen – wie auch die Banken – ebenfalls zu einem gerechten und solidarischen Funktionieren der Gesellschaft beitragen. Dies, indem sie vor allem die Infrastruktur zur Bearbeitung der Anträge auf Unterstützungsgelder bereitstellen.
 

Das kürzlich abgehaltene Forum Romand des SVV war dem Thema «Solidarität» gewidmet. Was bedeutet Solidarität für Sie?

Die gesamte Arbeitsweise unserer Branche beruht auf Solidarität. Die Versicherungsindustrie hat heute einen Anteil von über 30 Milliarden Franken am Bruttoinlandprodukt. Dieser grosse Anteil am BIP führt zu einem unbestreitbaren Stabilisierungseffekt für unsere Wirtschaft und trägt zum Wohlstand unseres Landes bei. All dies wäre nicht möglich ohne die Solidarität unserer Kunden, die das Fundament der Versicherungen bilden, ohne die Solidarität des Staates durch die für das reibungslose Funktionieren der Geschäftstätigkeit erforderliche Reglementierung, oder schliesslich die der Versicherungs- und Rückversicherungsgesellschaften.

«Solidarität, das bedeutet auch Nachhaltigkeit. Die Versicherer engagieren sich klar für verantwortungsbewusste Investitionen gemäss den ESG-Kriterien.»

Ist der Begriff der Solidarität noch umfassender?

Solidarität, das bedeutet auch Nachhaltigkeit. Die Schweizerischen Privatversicherer verwalten über 550 Milliarden an Vermögenswerten. Die Versicherer engagieren sich klar für verantwortungsbewusste Investitionen gemäss den ESG-Kriterien. Heute beteiligen sich alle wichtigen Versicherer auf dem Schweizerischen Markt an verschiedenen internationalen und nationalen Initiativen und halten die ESG-Regeln ein. Die vom SVV zusammengestellten Informationen und die in den letzten Jahren erzielten Fortschritte zeigen das solidarische Engagement der Privatversicherer: Einerseits im Bereich Klima, Klimawandel und Energie andererseits im Bereich Verhütung von Naturkatastrophen und Überschwemmungen. Dies geschieht auch unter Ausschluss spezieller Geschäftstätigkeiten, die die ESG-Kriterien nicht erfüllen. Diese Initiativen setzen sich durch Stiftungen und Förderung auch für nachhaltige Projekte ein.

«Auch Vorsorge für junge Menschen und Ältere bedeutet Nachhaltigkeit.»

Doch das Thema Nachhaltigkeit betrifft nicht nur den Bereich ESG. Auch Vorsorge für junge Menschen und Ältere bedeutet Nachhaltigkeit. Die Gefahr ist gross, dass wir den kommenden Generationen mehr Schulden als Leistungen hinterlassen. Aus diesem Grund bemüht sich der SVV, eine Vorsorge zu definieren, die die Bezeichnung «nachhaltig» verdient.
 

Sind Solidarität und die Wirtschaftswelt wirklich vereinbar?

Es stimmt, die Verbindung zwischen Solidarität und der Wirtschaftswelt ist für unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger nicht offensichtlich. Und doch gilt dieser Wert meines Erachtens in vielen Geschäftsbereichen.

Lassen Sie mich dazu konkrete Beispiele für Solidarität aus der Vaudoise-Gruppe anführen. Als das Land ab März 2020 unter der Coronakrise litt, haben wir uns an Aktionen wie DireQt oder local-heroes.ch beteiligt, um den lokalen Handel zu unterstützen. Wir haben ausserdem mehrerer Tausend Masken an das CHUV gespendet, um unseren Beitrag zur Unterstützung des Pflegepersonals zu leisten. Seit dem Beginn der Pandemie unterbreiten wir Massnahmen zur Verbesserung der finanziellen Situation unserer Kundinnen und Kunden. Kürzlich sind wir einer Anfrage der NGO Powercoders nachgekommen, die Migrantinnen und Migranten mit IT-Kenntnissen zu Praktika in Unternehmen verhilft. Wir haben etwa an einem Speed-Jobbing teilgenommen und zwei Praktikumsplätze angeboten. Die Bilanz dieser Aktion ist positiv, wir sind sehr zufrieden mit unseren beiden Praktikanten.

Diese Beispiele zeigen, dass wir alle in unseren jeweiligen Unternehmen Solidarität und Geschäft vereinbaren können. Wie bereits erwähnt, gibt es einen engen Zusammenhang zwischen Privatversicherungen und dem Prinzip der Solidarität. Seit ihren Ursprüngen, aber auch in Zukunft.

Zur Person:
Jean-Daniel Laffely hat einen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften der Universität Lausanne (HEC). Sein beruflicher Werdegang startete im Jahr 1989 bei La Suisse Versicherungen. 2006 trat er als Chief Risk Officer (CRO) in die Vaudoise ein. 2012, als damaliger Finanzchef, wurde er zum stellvertretenden Generaldirektor ernannt. Im Mai 2020 wurde er als Nachfolger von Philippe Hebeisen zum Generaldirektor und CEO ernannt.