La­ten­te Pro­dukt­ri­si­ken als Emer­ging Risk

Kontext15. Juni 2022

Kommt es im Zusammenhang mit einem Produkt zu Personen- und/oder Sachschäden bei Dritten, sind diese in der Betriebshaftpflichtversicherung grundsätzlich versichert.

Risikobeschreibung

Was ist «Produkt-Latenzzeit»?
Was bedeutet eine lange Latenzzeit in der medizinischen Welt? Unter Latenzzeit versteht man den Zeitraum zwischen einer Exposition (Ausgesetztsein gegenüber Ursachen einer möglichen Gesundheitsschädigung, z. B. Strahlung) und dem Auftreten erster Symptome einer Gesundheitsschädigung (z. B. Krebserkrankung). Viele Umwelteinflüsse wirken sich nicht nur zum Zeitpunkt der Exposition aus, sondern potentielle Auswirkungen auf die Krankheitsentwicklung sind während des gesamten Lebensverlaufs vorhanden. Die lange Latenzzeit zwischen der Exposition im frühen Lebensalter und einem späteren Ausbruch einer Gesundheitsschädigung erschweren die Ermittlung der damit verbundenen Zusammenhänge.

Analoges gilt auch für die Produkt-Latenzzeit, einerseits die Schadenmeldung und andererseits die Schadenregulierung. Um die Latenzzeit in kumulativen Expositionsanalysen zu berücksichtigen, werden häufig verzögerte Expositionsinformationen herangezogen. Das Ergebnis hängt vom jeweiligen Deckungsumfang und der Deckungsauslösung («Trigger») ab.

Wie gross ist das Risiko?
Asbestähnliche Risiken sind potentiell überall vorhanden. Die rasche Expansion der chemischen Industrie im letzten Jahrhundert hat Zehntausende verschiedener Chemikalien hervorgebracht. Dies hat unsere gesamte Lebensweise und die Art unserer Produkte stark verändert, manchmal zum Guten, manchmal zum Schlechten.

Fast täglich beschränken oder verbieten Organisationen und Behörden verschiedene Chemikalien. Die Auswirkungen auf die chemische Industrie (Hersteller sowie Anwender) hängen von der Entwicklung der Rechtsvorschriften ab, die zu einer Zunahme der Haftungsfälle führen könnten. Vorschläge zur wirksamen Bekämpfung giftiger Chemikalien könnten in Richtung einer erweiterten Herstellerverantwortung gehen, welche die Hersteller dazu verpflichten könnte, Produkte am Ende ihrer Lebensdauer zurückzunehmen, wie dies bereits in der Automobilindustrie Praxis ist.

Bei jeder potentiellen Klage muss der/die Beklagte definiert werden. Verschiedene Rechtsstreitigkeiten gegen Hersteller bedenklicher Chemikalien haben es aber ermöglicht, neue potentielle Kategorien von Beklagten zu ermitteln. Neben den historischen Herstellern von Chemikalien kann eine Klage auch gegen Einzelhändler, Verteiler und sogar Gemeinden eingereicht werden. Das zeigen uns beispielsweise die PFAS-Klagen (Per- und Polyfluoroalkyle Substanzen). Eine Einschätzung, welche Teile der Lieferketten in Zukunft nicht eingeklagt werden können, ist zurzeit schwierig zu treffen. Es ist damit zu rechnen, dass sich – durch die zunehmende Sensibilisierung der Öffentlichkeit durch soziale Medien und andere Plattformen sowie durch den zunehmenden finanziellen Druck auf Regierungen oder das erhöhte Umweltbewusstsein – die Bemühungen, weitere Unternehmen der Lieferkette in Rechtsstreitigkeiten einzubeziehen, verstärken werden. Auch wenn Rechtsstreitigkeiten in der Regel in den USA beginnen und oft enorme Ausmasse erreichen, sind diese Tendenzen vermehrt auch in anderen Teilen der Welt zu beobachten.

In den letzten zwanzig Jahren wurden immer mehr Daten gewonnen, die zeigen, dass bestimmte Chemikalien (so genannte «endokrine Disruptoren») in Dosen, die zuvor als sicher galten, negative Auswirkungen auf das endokrine System haben. Von Menschen hergestellte Chemikalien mit unbeabsichtigter hormonähnlicher Wirkung sind zahlreich: Kunststoffzusätze, Flammschutzmittel, Industriechemikalien, Pestizide, Bestandteile von Kosmetika, pharmazeutische Wirkstoffe, Metalle und Metalloide usw. Die weite Verbreitung, die chemische Stabilität und die Anreicherung über die Nahrungskette machen endokrine Disruptoren anfällig für Klagen. Es gibt potentielle Auswirkungen auf die chemische Industrie, in der diese Chemikalien hergestellt werden oder auf andere Industriezweige (z. B. Lebensmittel/Futtermittel), in denen sie verwendet werden. Unternehmen, die gefährliche Chemikalien herstellen oder damit handeln bzw. diese weiterverarbeiten, können verklagt werden, wenn diese Chemikalien vorhersehbare Schäden verursachen. Somit könnte sich dies auch auf die Versicherungsindustrie auswirken.

Was verlängert die Latenzzeit zusätzlich?
Die Kreislaufwirtschaft (Englisch: circular economy) verlängert die Latenzzeit zusätzlich. Kreislaufwirtschaft ist ein regeneratives System, in welchem Ressourceneinsatz und Abfallproduktion, Emissionen und Energieverschwendung minimiert werden. Dies führt dazu, dass Produkte so konstruiert und hergestellt werden, dass sie nach dem Gebrauch weiterverwendet, nachgerüstet oder für andere Zwecke wiederverwendet werden können. Je länger die Materialien und Produkte verwendet werden, desto grösser wird die Latenzzeit und somit die Möglichkeit von Schadenersatzansprüchen.

Die neuen EU-Verordnungen zum Ökodesign und zur Energiekennzeichnung, die im Dezember 2019 in Kraft traten, sind seit dem 1. September 2021 verbindlich. Diese Massnahmen gelten für Produkte, die auf dem EU-Markt in Verkehr gebracht werden, unabhängig davon, wo sie hergestellt werden. Bis 2019 konzentrierte sich die Ökodesign-Richtlinie auf die Energieeffizienz. Dies ist aber erst der Anfang. In Zukunft werden immer mehr Branchen betroffen sein, vor allem unter Berücksichtigung des steigenden Bewusstseins für Nachhaltigkeit.

Wie reagiert die Schweiz?
Der Bundesrat hat im April 2020 die Energieeffizienzverordnung (EnEV) angepasst. Mit der Revision der Energieeffizienzverordnung werden die verschärften Energieeffizienzvorschriften der Europäischen Union für serienmässig hergestellte Anlagen und Geräte in das Schweizer Recht übernommen. Die entsprechend angepasste Energieeffizenzverordnung ist am 1. September 2021 in Kraft getreten.

 

Wissenschaftliche Erkenntnisse

Chemikalien werden auf der Grundlage ihrer schädlichen Auswirkungen reguliert, unabhängig von der zugrunde liegenden Wirkungsweise. Die Störungen und die schädlichen Auswirkungen, die sich aus dieser Wirkungsweise ergeben können, werden in den einzelnen Ländern durch verschiedene Gesetze und Initiativen unterschiedlich geregelt.

Die Studien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder anderer fundierter und einflussreicher Organisationen sollten regelmässig und aufmerksam verfolgt werden. Alle von der WHO veröffentlichten Ergebnisse, die zu dem Schluss kommen, dass eine Chemikalie negative Auswirkungen auf Flora, Fauna und/oder Umwelt hat und eine Gefahr für den Menschen darstellt, werden zweifellos als Katalysator für Gerichtsverfahren in den USA dienen. Die millionenschweren Urteile im Zusammenhang mit Glyphosat (Pestizid) wurden zum Teil durch eine verschiedene Meinung zwischen der WHO und der US-Umweltschutzbehörde (USEPA) über den Zusammenhang zwischen dem Pestizid und Krebs ausgelöst.

 

Risikowahrnehmung

Solange keine stichhaltigen wissenschaftlichen Beweise vorliegen, dass eine Chemikalie Schäden an Tieren verursachen oder für Gesundheitsbeeinträchtigungen beim Menschen verantwortlich gemacht werden kann, ist es unwahrscheinlich, dass viele Klagen eingereicht werden. Sollte jedoch durch eine «bahnbrechende» Studie ein Zusammenhang zwischen einer Chemikalie und Gesundheitsbeeinträchtigungen beim Menschen festgestellt werden, wird dies unweigerlich zu Klagen, insbesondere, aber nicht ausschliesslich, in den USA führen. Es ist durchaus möglich, dass sich ein Anwalt an die Spitze eines solchen Rechtsstreits setzen will, um sich als «Anführer» in solchen Fällen zu etablieren.

Werden im Zusammenhang mit «Circular Economy» und «Right to Repair» die Ökodesign-Richtlinien über energieverbrauchsrelevante Produkte hinaus ausgeweitet, werden viel mehr Produkte bzw. Branchen betroffen sein. Auswirkungen auf den Produkt- und Konsumenten-Schutz sind offensichtlich. Verlängerte Produktlebenszyklen führen zu einer längeren Nutzung der Produkte und somit auch zu einer erhöhten Schadenwahrscheinlichkeit. Es ist zudem davon auszugehen, dass eine solche Entwicklung zu einer Erhöhung von Produktrückrufen (häufiger und umfassender als in Vergangenheit) führen wird. Der EU-Gesetzgeber könnte einerseits eine verschärfte Kausalhaftung für die Nichtkonformität von Produkten einführen und andererseits die gesetzlichen Garantiefristen an die Lebensdauer der Produkte anpassen.

 

Haftpflichtrechtliche Relevanz

Bezüglich einer Haftung für Personen- und Sachschäden steht insbesondere die Produkthaftpflicht im Fokus. Eine Haftung für Personenschäden ist bei Herstellern heute schon denkbar. Zudem haben verschiedene Rechtsstreitigkeiten der jüngsten Vergangenheit gezeigt, dass neben dem Hersteller bedenklicher Produkte (Chemikalien/Substanzen/Materialien) vermehrt auch weitere Unternehmen aus der Wertschöpfungskette betroffen werden können. Eine Haftung für Umweltschäden ist ebenfalls nicht auszuschliessen.

 

Haftpflichtversicherungstechnische Relevanz

Kommt es im Zusammenhang mit einem Produkt zu Personen- und/oder Sachschäden bei Dritten, sind diese in der Betriebshaftpflichtversicherung grundsätzlich versichert. Je nachdem können in der Haftpflichtversicherung auch reine Vermögensschäden mitversichert sein. Der Versicherungsschutz ist hierbei einerseits vom gewährten Deckungsumfang und andererseits von den konkreten Umständen abhängig, die zum Schadenereignis geführt haben.

Die von den neuen Kreislaufwirtschaft-Vorschriften stark betroffenen Branchen werden ihre Produkte umgestalten müssen, was sich negativ auf die Produktsicherheit und die Qualität des Risikos im Portfolio der Haftpflichtversicherer auswirken kann.

 

Zeithorizont für versicherte Ansprüche

Um künftige Ansprüche möglichst minimieren zu können, ist im Sinne der Prävention ein aktiver Austausch mit den Behörden in Bezug auf die betroffenen Verbote und auch die Entwicklung von Vorschriften für die Kreislaufwirtschaft erforderlich.

Definition «Emerging Risks»:

Neue Technologien und die Entwicklung der modernen Gesellschaft bieten neue Chancen, aber auch neu Gefahren. Solche neuartigen zukunftsbezogenen Risiken, die sich dynamisch entwickeln und eben nur bedingt erkennbar und bewertbar sind werden als «Emerging Risks» bezeichnet.  Der Begriff «Emerging Risks» ist nicht einheitlich definiert. In der Versicherungsbranche werden damit üblicherweise Risiken bezeichnet, welche sich als mögliche zukünftigen Gefahr mit grossem Schadenpotenzial manifestieren.