Kli­ma­freund­li­che Bau­ma­te­ria­li­en als Emer­ging Risk

Kontext15. Juni 2022

Um den veränderten Anforderungen im Baubereich Rechnung zu tragen (z. B. höhere Gebäude, Kostensenkung durch Massenvorfertigung/Importe, Green Cities, Energieeffizienzsteigerung), werden vermehrt neuartige Baustoffe verwendet, deren Sicherheit nach den bisherigen Prüfverfahren getestet und bewilligt werden. Die Schadenerfahrung hat gezeigt, dass nicht alle Prüfverfahren eine kurzfristige oder gar langfristige Sicherheit von Baumaterialien garantieren.

Risikobeschreibung

Aufgrund des geringeren Gewichts und der guten Isolationseigenschaften werden beispielsweise beim Bau von Hochhäusern Doppelfassadenkonstruktionen, sogenannte Metal Composite Material (MCM) oder WärmedämmVerbundsysteme (Exterior Insulation Finishing Systems (EIFS)), verwendet. Mehrere Brandereignisse in Dubai und in London (Grenfell Tower 2017) haben gezeigt, dass die verwendeten brennbaren MCM-Verkleidungen und die Konstruktionsweise, die in einem Feuerereignis wie ein Kamin wirkt, das Feuer schneller ausbreiten lassen, was als Folge zu enormen Schäden führen kann. Eine kleine Unachtsamkeit – beispielsweise während des Barbecues auf der Terrasse – oder ein Kurzschluss bei einem elektrischen Gerät kann im Zusammenhang mit diesen Verbundwerkstoffen zu einer Katastrophe führen.

Als Reaktion auf die genannten Ereignisse wurden die aktuellen Prüf- und Bewilligungsverfahren für diese Baumaterialen kritisch hinterfragt. Wieweit diese Verfahren den besonderen Eigenschaften von neuen Materialien genügend Rechnung tragen, ist weiterhin Gegenstand von Diskussionen. Nachfolgend einige Beispiele:

Aktuell steigt die Nachfrage nach nachhaltigen Baumaterialien, welche mit einem kleineren CO2-Fussabdruck und/oder aus nachwachsenden Ressourcen bestehen, stark an. Im Hinblick auf eine Kreislaufwirtschaft sind Baumaterialhersteller, aber auch Architekten und Ingenieure, neuerdings gefordert, Stoffkreisläufe weitgehend zu schliessen. Dies bedingt unter anderem langlebige Konstruktionen, Optimierung des Energieeinsatzes in der Herstellung und für den Transport (Reduktion der sogenannten grauen Energie) sowie Trennung und vollständiges Rezyklieren von Materialien beim Abbruch von alten Gebäuden. Vermehrt kommen auch Materialien zum Einsatz, die eine Vielzahl von Funktionen vereinigen (z. B. Photovoltaik-Fassadenelemente). Produktfehler könnten gehäuft auftreten, da mehr als ein Leistungsaspekt eine Abweichung erfahren kann (Stromproduktion und / oder Wasserhaushalt).

Bauherren fordern vermehrt den Einsatz von Baumaterialien mit reduzierter grauer Energie in der Herstellung und für den Transport. Gegenstand aktueller Forschung ist beispielsweise Zement mit veränderter Zusammensetzung, dessen Herstellung weniger Energie benötigt oder gar CO2 binden kann. Seine Eigenschaften sind allerdings noch weitgehend unerforscht. In der Schweiz erlauben neue Brandschutzvorschriften, nun auch Hochhäuser mit Holzbauteilen zu erstellen. Zudem werden Verbindungs- und Verklebetechniken von Holz stetig weiterentwickelt und können Stahl und Stahlbeton teilweise ersetzen. Ein weiteres Beispiel für den verstärkten Einsatz von nachwachsenden Baustoffen sind auf Papier basierende Isolationsmaterialien.

Ein letzter Punkt sind selbstheilende oder mit Sensoren ausgestattete Baumaterialien, die frühzeitig Ermüdungserscheinungen aufzeigen sollten. Dies sind jedoch neue Technologien, weswegen es dazu noch keine Langzeiterfahrungen gibt.

Mögliche Bedenken bei neuartigen Baumaterialien sind vorzeitiges funktionelles Versagen, statische Probleme oder Verschlechterung des Innenraumklimas (Indoor-Pollution) sowie ineffiziente Brandbekämpfung durch die Feuerwehr. Zudem fehlt bei neuen Materialien stellenweise auch das Wissen, wie sie auf der Baustelle zu verbauen oder einzusetzen sind, was zu mehr Baumängeln führen kann.

Betroffene Industrien:

  • Hersteller und Zulieferer von Baumaterialien
  • Bauindustrie
  • Architekten und Ingenieure

Betroffen sind aber auch die Bauherren und Bewilligungs-/Aufsichtsbehörden sowie die Eigentümer und Nutzer der Gebäude und Gebäudemanagement-Unternehmen.

 

Risikowahrnehmung

In der Schweiz kam es zu Feuchtigkeitsschäden an Häusern, weil Dachfolien unter extremen Wetterbedingungen, wie sie beispielsweise in Berggebieten auftreten, nicht mehr dicht waren. Die Schäden wurden oft erst nach Ablauf der Garantie entdeckt. Einer der Gründe für die Schäden ist der Umstand, dass Baumaterialien bisweilen an die Grenze ihrer Möglichkeiten entwickelt werden. Die besagten Dachfolien sollten dampfförmige Feuchtigkeit passieren lassen und gleichzeitig das Eindringen von Wasser verhindern, und dies alles für eine Lebensdauer von 30 Jahren.

Brandereignisse während des Baus oder der Nutzung von Hochhäusern haben die Problematik der brennbaren MCM in Kombination mit der verwendeten Konstruktionsweise aufgezeigt.

Isolation von Gebäuden mit einer ungeeigneten Kombination von Wärmedämmung und klimatischen Bedingungen haben historisch öfters zu Gebäudeschäden aufgrund Feuchtigkeit geführt. So kam es beispielsweise in Irland zu seriellen Feuchtigkeitsschäden aufgrund nachträglicher Isolation zur Optimierung der Gebäudehüllen bei bestehenden Bauten (cavity wall insulation).

 

Haftpflichtrechtliche Relevanz

Die bisherigen Schadenfälle haben die haftpflichtrechtliche Relevanz bei einer Vielzahl von involvierten Unternehmen aufgezeigt. Neben den Bauherren, Architekten, Produktherstellern, Lieferanten und Bauunternehmen wurden Haftpflichtansprüche gegen die Eigentümer der Gebäude, gegen das Gebäudemanagement oder für den Unterhalt verantwortliche Unternehmen sowie Aufsichtsbehörden gestellt. Der Nachweis des adäquaten Kausalzusammenhangs zwischen fehlerhaftem Verbundwerkstoff als Schadensursache einerseits und Personen- oder Sachschäden anderseits ist denkbar. Inwieweit die Einrede der Einhaltung der relevanten Sicherheitsstandards als Haftpflichtbeschränkung wirksam eingebracht werden kann, ist fraglich.

 

Haftpflichtversicherungstechnische Relevanz

Das Risiko ist in der Haftpflichtversicherung nicht ausgeschlossen, also im Umkehrschluss gedeckt. Dies betrifft insbesondere die Berufshaftpflichtversicherung von Architekten sowie die Betriebshaftpflicht- und Produkthaftpflichtversicherung der am Bau Beteiligten sowie von Herstellern und Lieferanten von Baumaterialien.

Verschärft wird die Problematik durch teilweise jahrelangen Gebrauch und den Verbau der Materialien, bevor ein Mangel festgestellt wird. Das Risiko von Serienschäden bei neuartigen Baumaterialien ist deshalb erhöht.

 

Zeithorizont für versicherte Ansprüche

In den nächsten Jahren ist ein Anstieg von Haftpflichtansprüchen im Zusammenhang mit neuartigen Baumaterialien zu erwarten.

Definition «Emerging Risks»:

Neue Technologien und die Entwicklung der modernen Gesellschaft bieten neue Chancen, aber auch neue Gefahren. Solche neuartigen zukunftsbezogenen Risiken, die sich dynamisch entwickeln und eben nur bedingt erkennbar und bewertbar sind werden als «Emerging Risks» bezeichnet.  Der Begriff «Emerging Risks» ist nicht einheitlich definiert. In der Versicherungsbranche werden damit üblicherweise Risiken bezeichnet, welche sich als mögliche zukünftigen Gefahr mit grossem Schadenpotenzial manifestieren.