Im Bann des Fachkräftemangels
Der Fachkräftemangel ist ein Megatrend unserer Zeit. Auch die Versicherungswirtschaft, wiewohl eine attraktive Arbeitgeberin, ist davon betroffen. Bei 30 der insgesamt 38 untersuchten brancheninternen Berufsgruppen gibt es Anzeichen für eine im Vergleich zur Gesamtwirtschaft überdurchschnittlich angespannte Fachkräftesituation. Das zeigt eine neue Studie, die im Auftrag des SVV erstellt worden ist.
Die Indikatoren sprechen für sich: Eine hohe Zuwanderung und eine tiefe Arbeitslosenquote sind Indizien für einen erhöhten Fachkräftebedarf, eine hohe Quote von offenen Stellen ist es ebenso. Und wenn aufgrund der demografischen Struktur in einer Berufsgruppe viele Pensionierungen zu erwarten sind, dann dürfte sich die Situation der Knappheit weiter verschärfen.
Auf den Beruf kommt es an
Wie sehr auch die schweizerische Versicherungswirtschaft vom Megatrend Fachkräftemangel betroffen ist, hat der Volkswirtschafter Michael Lobsiger vom Basler Beratungsunternehmen BSS im Auftrag des SVV untersucht. Um es vorwegzunehmen: Es gibt zahlreiche statistische Hinweise darauf, dass die Versicherungsbranche im Vergleich mit der Gesamtwirtschaft überdurchschnittlich stark vom Fachkräftemangel betroffen ist, wobei die Werte je nach Beruf zum Teil stark variieren. Aber in 30 der 38 untersuchten Berufsgruppen hat die Studie (s. Infobox) eine angespannte Fachkräftesituation festgestellt.
Während der Fachkräftemangel in der Berufsgruppe «Schätzer und Schadensgutachter» nur wenig von demjenigen in der Gesamtwirtschaft nach oben abweicht, zeichnet sich im Berufsfeld «Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, verwandte Berufe» und im Bereich Informatik ein stark überdurchschnittlicher Fachkräftemangel ab. Grundsätzlich lasse sich feststellen, sagt Studienautor Michael Lobsiger, dass die Gruppe «intellektuelle und wissenschaftliche Berufe» am stärksten vom Fachkräftemangel betroffen sei, gefolgt von den Berufsgruppen «Führungskräfte» sowie «Techniker und gleichrangige nicht technische Berufe». In Bezug auf die Versicherungsbranche fallen in letztere Kategorie vor allem Versicherungsfachleute.
Spezialisierte und höherqualifizierte Fachleute sind stark gesucht. Sie sind auf dem einschlägigen Arbeitsmarkt in einer sehr guten Verhandlungsposition.
Berufe der Kategorie «Bürokräfte und verwandte Berufe» stehen hingegen am anderen Ende der Skala. Hier gibt es im gesamten Versicherungsbereich nur einen einzigen Beruf, nämlich denjenigen der Bürokraft im Bereich «Statistik, Finanz- und Versicherungswesen», der einen leichten Hinweis auf einen Fachkräftemangel zeigt. Am wenigsten Anzeichen für einen Mangel gibt es im Bereich «allgemeine Bürokräfte». Fazit: Spezialisierte und höherqualifizierte Fachleute sind stark gesucht. Sie sind auf dem einschlägigen Arbeitsmarkt in einer sehr guten Verhandlungsposition. Es lohnt sich also für Berufsleute in der Versicherungsbranche, in die eigene Weiterbildung zu investieren.
Studie zum Fachkräftemangel
Die Studie basiert auf Daten der Jahre 2018-2020 (aktuellste über drei Jahre kumulierte Daten der Strukturerhebungen des Bundesamtes für Statistik BFS). Die Kategorisierung der Berufsgruppen orientiert sich an der offiziellen Berufsnomenklatur des BFS.
Künstliche Intelligenz konkurrenziert Fachkräfte
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die Aufgaben der weniger spezialisierten Berufe dereinst von künstlicher Intelligenz übernommen werden könnten; schliesslich wäre dies eine Strategie zur Entschärfung des Fachkräftemangels. Interessanterweise sieht Lobsiger nicht nur die «allgemeinen Bürokräfte» mit Konkurrenz durch die künstliche Intelligenz konfrontiert, sondern auch höherqualifizierte Fachpersonen wie Juristen. Hier, sagt er, gebe es ein Potenzial zur Automatisierung, insbesondere im Bereich der Recherche, also etwa beim Finden und Sichten von Urteilen. Die juristische Würdigung indes bleibt natürlich der menschlichen Intelligenz vorbehalten, aber vielleicht eben nur noch diese.
Fachkräftemangel fordert Branche
Die Studie zum Fachkräftemangel in der Versicherungswirtschaft liefert eine grosse Menge an branchenspezifischen Erkenntnissen. Etwa diejenige, dass gewisse technische Berufe im Vergleich mit anderen Berufsgruppen eine eher ältere Belegschaft aufweisen. Hier sind in den kommenden Jahren überdurchschnittlich viele Pensionierungen zu erwarten. Nachwuchskräfte mit entsprechender Qualifikation haben also gute Karten, für die Unternehmen ist diese Situation hingegen eine Herausforderung.
Der Frauenanteil im Bereich der technischen und wissenschaftlichen Berufe etwa ist durchaus ausbaufähig.
Auch zeigt die Studie, dass Berufsleute der Gruppe «intellektuelle und wissenschaftliche Berufe» sowie «Techniker» offensichtlich gerne arbeiten; sie weisen eine überdurchschnittliche Erwerbsquote auf. Das gilt für Männer wie für Frauen. Der Beschäftigungsgrad der Frauen ist in sämtlichen Berufen der Versicherungswirtschaft höher als in der Gesamtwirtschaft. Die Teilzeitarbeit, sagt Lobsiger, sei in der Versicherungsbranche kein wesentlicher Treiber des Fachkräftemangels.
Trotz dieser erfreulichen Befunde ist die Branche angesichts des Fachkräftemangels herausgefordert. Der Frauenanteil im Bereich der technischen und wissenschaftlichen Berufe etwa ist durchaus ausbaufähig. Das wirft die Frage nach der Vereinbarkeit von Beruf und Familie auf. Hofft die Branche angesichts dieses Problems allein auf Lösungen durch den Staat, macht sie es sich vielleicht zu einfach.