Finanzthemen geniessen hohe Priorität – doch das Wissen fehlt
Obwohl Finanzthemen in der Bevölkerung eine hohe Priorität geniessen, besteht bei der Finanzkompetenz der Bevölkerung noch Luft nach oben. Fachleute aus Branche und Wissenschaft wollen dies ändern.
Ganz ehrlich, wann haben Sie zuletzt Ihren Vorsorgeausweis studiert? Also nicht nur geheftet und abgelegt – sondern wirklich geschaut, welche Leistungen Sie im Alter, bei Invalidität und im Todesfall voraussichtlich erhalten. Vielleicht auch überprüft, ob Sie mit zusätzlichen Einkäufen in die Pensionskasse Ihre Leistungen verbessern könnten oder ob Ihre Absicherung im Alter Lücken aufweist. Wenn sich bei Ihnen nun ein schlechtes Gewissen einschleichen sollte: Sie sind nicht allein. «Gerade in Bezug auf die zweite Vorsorgesäule bestehen bei vielen Menschen Wissenslücken», weiss Melanie Häner vom Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP). Unter dem Credo «Wirtschaftspolitik für alle» hat es sich das Forschungsinstitut, das 2021 als Kooperation der Universität Luzern und der Stiftung Schweizer Wirtschaftspolitik tätig wurde, zum Ziel gesetzt, wirtschaftspolitisches Basiswissen auf verständliche Weise aufzubereiten und zu vermitteln.
Was es braucht für finanzielle Entscheidungen
«Financial Literacy heisst für uns, dass Menschen das Wissen und die Fähigkeiten haben, um finanzielle Entscheidungen zu treffen, die ihren Bedürfnissen entsprechen», sagt die Ökonomin Melanie Häner. Und das fängt schon bei ganz grundlegenden Themen an – etwa beim Erstellen eines Haushaltsbudgets oder beim Berechnen der Steuern.
Grossen Nachholbedarf sieht Häner insbesondere im Bereich der Sozialversicherungen. Auf den ersten Blick mag dies erstaunen, zumal gerade das Thema AHV/Altersvorsorge seit Jahren auf den vordersten Plätzen des Sorgenbarometers der Credit Suisse rangiert. «Das Interesse für das Thema ist da, das Bewusstsein über dessen Bedeutung ebenfalls», sagt Melanie Häner. Aber: «Häufig fehlt das Detailwissen.» Es existiere eine Kluft zwischen dem Wissen, das Menschen haben, und dem, was sie eigentlich wissen sollten. Um dies zu ändern, versuchen Häner und ihr Team vom IWP in Luzern das finanzielle Bewusstsein auf möglichst zugängliche Weise zu fördern. «Einfache Erklärvideos sind beispielsweise eine gute Möglichkeit, um Menschen mit dem Thema vertraut zu machen.»
«Das Interesse für das Thema ist da, das Bewusstsein über dessen Bedeutung ebenfalls. Häufig fehlt das Detailwissen.»
Darüber hinaus ist das IWP zurzeit im Rahmen eines Pilotprojekts an den Zuger Kantonsschulen unterwegs, wo verschiedene Themen aus dem Bereich Finanzwissen im Unterricht behandelt werden. Zudem ist das IWP mit der Lernplattform Evulpo eine Partnerschaft eingegangen. Dabei handelt es sich um eine digitale Lernplattform, die Jugendlichen kostenloses Lernmaterial zur Verfügung stellt. «Evulpo hat es sich unter anderem zur Aufgabe gemacht, Kompetenzen in Bereichen zu vermitteln, die im obligatorischen Unterricht nicht behandelt werden.» In diesem Zusammenhang hat das IWP gemeinsam mit Evulpo für Schülerinnen und Schüler ab der Sekundarstufe zwölf Lektionen zu wirtschaftspolitischen Themen erstellt. Die Themenbereiche reichen von der Altersvorsorge über Verschuldung bis hin zu Wertschöpfung und Wachstum.
Gesamte Wirtschaft steht in der Pflicht
Warum ein möglichst hohes Grundwissen in Sachen Finanzen, Vorsorge und Vermögensplanung so wichtig ist, liegt eigentlich auf der Hand: «Menschen mit höherem Finanzwissen haben einen besseren Umgang mit ihrem Vermögen und sind seltener verschuldet», erklärt Melanie Häner. Oder anders: «Je grösser das Finanzwissen der Bevölkerung, desto besser geht es uns allen.»
Am Ziel sei man diesbezüglich noch lange nicht. Das betont auch Monika Behr, Leiterin des Lebengeschäfts und Mitglied der Geschäftsleitung bei der Allianz Suisse. «Das finanzielle know how der Bevölkerung ist besser als auch schon, aber es ist immer noch erschreckend schlecht.» Gerade das Wissen über das Dreisäulensystem und die finanzielle Vorsorge ist laut Behr noch sehr tief. Sie betont: «Nicht alle müssen Vorsorgeexperten sein, aber es ist wichtig, ein grundsätzliches Verständnis über die wichtigsten Vorsorgethemen zu haben.» Für eine funktionierende Gesellschaft sei dies unabdingbar.
Um das Wissen und die finanziellen Kompetenzen der Bevölkerung zu verbessern, stehen laut Monika Behr nicht zuletzt die Banken, die Versicherungen, ja die gesamte Wirtschaft in der Pflicht. «Wir müssen als Versicherungswirtschaft die Aufklärungsarbeit gezielt unterstützen.» Entscheidend sei jedoch, dass die Themen auch in der Schule und am Familientisch zu Alltagsthemen werden.
Was bedeutet Financial Literacy?
Der Begriff Financial Literacy ist zurzeit in aller Munde. Aber was bedeutet das genau? Und welche Kompetenzen und Fähigkeiten sind damit gemeint? Eine einheitliche Definition gibt es nicht. Laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) handelt es sich dabei um eine Kombination aus Bewusstsein, Wissen, Fähigkeiten, Einstellung und Verhalten. Diese Kombination ist notwendig, um fundierte finanzielle Entscheidungen zu treffen und letztlich für das eigene finanzielle Wohl zu sorgen. Nebst dem grundlegenden Wissen gehören somit auch das Verhalten sowie bestimmte Einstellungen zu Finanz- und Vorsorgethemen zum Begriff Financial Literacy.
Jede Lebensphase birgt neue Herausforderungen
Laut Monika Behr ist das Schliessen der Wissenslücken bei Frauen besonders dringlich. «Es ist wichtig, dass sich gerade Frauen mit dem Thema Vorsorge befassen.» Dadurch steige nicht nur die persönliche Handlungskompetenz, sondern auch das finanzielle Selbstbewusstsein. Für Behr ist das Verbessern des Vorsorgewissens eine Herzensangelegenheit. «Gerade bei Frauen, die ihren gesetzlichen Mutterschaftsurlaub verlängern oder nach der Rückkehr aus dem Mutterschaftsurlaub Teilzeit arbeiten, können aufgrund der ausbleibenden Lohnzahlungen Vorsorgelücken entstehen.» Das Beispiel zeige, dass jede Lebensphase auch bezüglich der Finanz- und Vorsorgeplanung neue Herausforderungen mit sich bringe. Auch Themen wie der Übergang in die Pension oder private Veränderungen wie zum Beispiel eine Scheidung seien diesbezüglich von Bedeutung.
«Es ist wichtig, dass sich gerade Frauen mit dem Thema Vorsorge befassen.»
Monika Behr möchte Frauen dazu ermutigen, ihre Finanzen selbst in die Hand zu nehmen. «Damit das gelingt, müssen wir unseren Kundinnen aufzeigen, mit welchen Herausforderungen Frauen bei der Vorsorge konfrontiert sind, wie sich Vorsorgelücken vermeiden lassen und was es beim Anlegen der eigenen Ersparnisse zu beachten gibt.» Zudem seien die Versicherungen gefragt, passende Produkte zu kreieren. «Heute finden sich Frauen leider in vielen Angeboten der Vorsorge nicht wieder», betont Monika Behr. So brauche es beispielsweise mehr Anpassungsmöglichkeiten in den Produkten – «wie zum Beispiel die Option einer Prämienzahlungspause, flexible Einzahlungsmöglichkeiten sowie die Möglichkeit, die Risikoabdeckung während der Laufzeit an veränderte Bedürfnisse anzupassen».
Financial Literacy ist wichtiger Teil der Berufsbildung
Eine bedeutende Rolle spielt das Thema Financial Literacy auch bei der Aus- und Weiterbildung junger Berufsleute. Der VBV/AFA Berufsbildungsverband der Versicherungswirtschaft schafft die Grundlagen und Rahmenbedingungen für die Berufsbildung und überbetriebliche Aus- und Weiterbildung von Versicherungsfachkräften in der Schweiz.
«Wir legen Wert darauf, ein solides finanzielles Grundwissen für junge Berufsleute zu schaffen», erklärt der Verbandsdirektor Jürg Zellweger. «Dazu gehört, dass die Lernenden die Grundlagen der Versicherungen verstehen, Risiken erkennen und ein grundlegendes Verständnis für Finanzen und Buchhaltung haben.» Auch Jürg Zellweger ist überzeugt: «Aufklärung über Finanz- und Versicherungsfragen kann Menschen befähigen, in finanziellen Belangen fundierter zu entscheiden.» Finanzielle Kompetenz kann somit dazu beitragen, Fehlentscheide und damit verbundene Unannehmlichkeiten zu vermeiden.
BVG-Reform: Ein ausgewogener Kompromiss
National- und Ständerat haben am 17. März 2023 die Reform der beruflichen Vorsorge verabschiedet. Sie stellt einen ausgewogenen und kostenmässig verkraftbaren Kompromiss dar, der einen wichtigen Beitrag für eine zukunftsfähige Altersvorsorge leistet.
Kernelement der Reform ist die Senkung des überhöhten BVG-Umwandlungssatzes von 6,8 Prozent auf 6,0 Prozent, was die unerwünschte Umverteilung von den Erwerbstätigen zu den Rentenbeziehenden reduziert. Mit der gleichzeitigen Verstärkung des Sparprozesses und Rentenzuschlägen für die Übergangsgeneration werden das Leistungsniveau gehalten und die Vorsorgesituation von Erwerbstätigen mit tiefen Löhnen – oft jüngere oder teilzeiterwerbstätige Frauen und Männer – verbessert. Die Reform stabilisiert und modernisiert auf diese Weise die berufliche Vorsorge und erfüllt damit die vorgegebenen Ziele.
Gegen die Vorlage wurde das Referendum ergriffen. Auch mit Blick auf die für das Frühjahr 2024 angesetzte Volksabstimmung setzt sich der Branchenverband der Privatversicherer weiterhin für das Gelingen der Reform ein.