Heu­te Ler­nen­de, mor­gen CEO?

Interview

Juan Beer hat bei der Zurich sämtliche Stufen der Karriereleiter durchquert. Im Interview spricht er mit Seychelle Bailey, selbst Zurich-Lernende, über die Berufslehre, die der Grundstein zu seinem Werdegang war. 

Juan Beer, als Sie 1987 Ihre Lehre bei der Zurich angetreten sind: Hatten Sie damals schon das Ziel vor Augen, heute als CEO hier zu sitzen?

Juan Beer: Nein, überhaupt nicht. Ich wusste damals kaum, was ein CEO ist und was er in einem solchen Unternehmen genau macht. In diesem Alter kommt man mit einer gewissen Naivität in ein solches Unternehmen und ist erst mal schwer beeindruckt – in meinem Fall von dem grossen historischen Gebäude am Mythenquai. Es war also weniger geplant als eine Folge der eigenen Entwicklung.  

Und Sie, Seychelle Bailey, sehen Sie sich in der Zukunft an der Spitze eines grossen Unternehmens?

Seychelle Bailey: Den grossen Plan für meine Zukunft habe ich nicht. Mir war aber wichtig, dass ich in eine Branche komme, in der ich mich beruflich weiterentwickeln kann und Perspektiven habe. Das ist hier definitiv der Fall.  

Wenn es schon nicht die Absicht war, CEO zu werden - was hat sie beide denn dann dazu bewogen, sich für eine Ausbildung in der Versicherungsbranche zu entscheiden?

Juan Beer: Das war Zufall. In den 80er-Jahren galt noch: Wer etwas aus seinem Leben machen will, wird Banker. Auch ich habe mich beim damaligen Schweizerischen Bankverein beworben, in einer Filiale in Zollikon. Mein Vater – selbst Luftfahrtversicherungsbroker – hat mich dann motiviert, mich noch bei Zurich zu bewerben. Ein bisschen hat er wohl gehofft, dass ich mal in seine Fussstapfen trete. Das grosse, schöne Gebäude am Mythenquai war dann ein so grosser Gegensatz zur Bankfiliale in Zollikon, dass der Fall klar war. Was genau in diesem Gebäude passiert, darüber habe ich mir nicht allzu viele Gedanken gemacht.  

Seychelle Bailey: Auch ich hatte anfänglich die Banklehre im Visier. In der Mittelstufe habe ich einen Zukunftstag bei der ZKB verbracht. Das hat mir sehr gefallen. Als es dann in der Sekundarstufe konkret um die Lehrstellensuche ging, ist dies etwas in den Hintergrund gerückt. Zurich kannte ich dank meiner Mutter, die ebenfalls dort arbeitet und der ich im Homeoffice auch mal schon über die Schultern blicken durfte. Eine Schnupperlehre hat mich dann vollends überzeugt, mich bei Zurich zu bewerben Zum Glück hat es beim ersten Versuch geklappt.  

Gab es trotz Schnupperlehre und Schulterblick noch Überraschungen während der Lehre?

Seychelle Bailey: Ja, total. In der Schule hatte ich ein Bild davon, wie es ist, zu arbeiten. Die Realität war dann komplett anders. Schon nur aufgrund der vielen Menschen, die ich seit Beginn meiner Lehre kennengelernt habe. Auch die Arbeit an sich war anders, als ich mir das vorgestellt hatte. 

Auf welche Herausforderungen sind sie in der Lehre konkret gestossen?

Seychelle Bailey: Ich konnte in der Lehre relativ schnell direkten Kundenkontakt übernehmen und musste lernen, wie man in unangenehmen wie auch in schönen Situationen gut reagiert und professionell bleibt. Dazu kam das technische Wissen: Ich musste die Versicherungsprodukte kennenlernen, und zwar so gut, dass auch ich sie einem Kunden erklären kann.  

Juan Beer: Bei mir war das ähnlich. Was ich aus meiner Erfahrung ergänzen würde: Ich fand es in diesem Alter enorm schwierig, einen Fokus zu finden. Ich war sehr lebhaft, habe Fussball gespielt, Kampfsport ausgeübt und Ausgang ist in diesem Alter ja auch ein Thema. Meine Prioritäten zu finden und alle Interessen zusammenzubringen, das fand ich anstrengend.

Wie haben Sie es dennoch geschafft?

Juan Beer: Für mich gab es einen Tipping Point: Im zweiten Lehrjahr wurde ich – quasi als klinischer Versuch – als erster Lernender überhaupt für vier Monate ins internationale Programmgeschäft geschickt. Ich kam also aus den Versicherungssparten Schaden und Hausrat in ein Umfeld, in dem alle nur Englisch sprachen. Da sind klingende Firmennamen gefallen und ich durfte an wichtigen Sitzungen teilnehmen. Das Interesse, in der Versicherungsbranche weiterzumachen, war damit geweckt. Dazu kamen eine gewisse Ungeduld und ein grosser Drang, weiterzukommen. Diesen Drang haben auch die Leute aus dem HR zu spüren bekommen, die mich in dieser Zeit sicher als mühsam beschrieben hätten (lacht). Heute bin ich froh, dass ich so hartnäckig geblieben bin.  

Und Sie, Frau Bailey, haben diese Breite der Branche auch schon kennengelernt?

Seychelle Bailey: Ich habe mir meine Lehre so vorgestellt, dass ich in erster Linie Versicherungen verkaufen würde. Umso überraschter war ich, als ich in meinem ersten Lehrjahr als erste Lernende überhaupt zu LiveWell kam. LiveWell ist eine HealthApp, die auf den ersten Blick so gar nichts mit Versicherungen zu tun hatte. Die Abteilung ist an den Konzern angebunden und auch für mich war dieses internationale Umfeld sehr spannend. Später auf der Generalagentur und im Direktverkauf war ich näher am «klassischen» Versicherungsgeschäft. Beides ist spannend und ich schätze diese Möglichkeit, mit der Wahl der Abteilung die eigenen Interessen vertiefen zu können.  

Juan Beer: Das zeigt: Die Vielfalt der Branche ist riesig. Und die Branche befindet sich in einem starken Wandel. Nicht radikal, aber stetig. Viele Branchenvertreter haben in den letzten Jahren versucht, eine «Coolness» wie Netflix oder Amazon zu erreichen. Aber unser Coolness-Faktor ist limitiert, was nicht heisst, dass die Jobs weniger spannend sind. Wir leisten einen enorm wichtigen Beitrag für die Bevölkerung, den Wohlstand und die Entwicklung unseres Landes. Gäbe es Versicherungen nicht, gäbe es keinen Handel – weder lokal noch regional oder global. Wir wären heute in der Entwicklung weit zurück, weil die Leute nicht bereit wären, grosse Risiken in Kauf zu nehmen. Es ist eigentlich eine noble Funktion. Das mag weniger «cool» sein, aber es bringt einen Mehrwert, auf den sich die Versicherer jetzt wieder verstärkt konzentrieren. Wir tun uns nur schwer damit, diesen Mehrwert aufzuzeigen. Deshalb liegen wir auch in der Arbeitgeberattraktivität trotz den Entwicklungen in den letzten Jahren noch hinter den Banken zurück. 

Juan Beer

Juan Beer, Chief Executive Officer (CEO) von Zurich Schweiz

Juan Beer, wenn Sie heute mit jungen Menschen zusammenarbeiten und an Ihre Lehrzeit zurückdenken: Wie erleben Sie die junge Generation?

Juan Beer: Diese Diskussion habe ich kürzlich mit zwei jungen Zurich-Mitarbeitenden geführt. Ich finde es greift zu kurz zu sagen «die junge Generation ist anders». Nein – jede Generation ist anders. Jede Generation ist ein Produkt der Umwelt, in der sie grossgeworden ist. Dabei gibt es kein Besser oder Schlechter. Absolute Aussagen wie «die junge Generation ist besser, weil sie technisch affiner ist», mag ich nicht, weil sie andere Qualitäten wie beispielsweise die Lebenserfahrung, welche ältere Generationen mitbringen, ignoriert. Was ich aber wahrnehme: Die junge Generation ist selbstbewusster als zumindest ich es in diesem Alter war. Sie sind sehr aktiv und gewillt ihren Beitrag zu leisten. Und auf der anderen Seite ist da eine Überforderung spürbar, die ich vor allem auf die Informationsflut zurückführe. Dies bereitet mir Sorge.

Seychelle Bailey, in der Schulzeit ist man vermehrt mit gleichaltrigen Menschen zusammen, im Berufsleben trifft man auf ganz andere Generationen. Wie ist das für Sie, so zu arbeiten?

Seychelle Bailey: Es ist wahnsinnig spannend. Vor der Lehre macht man sich ja schon Gedanken, wie das dann sein wird, mit anderen Generationen zusammenzuarbeiten: Welche Themen spreche ich an? Muss ich mehr auf meine Wortwahl achten? Diese Gedanken haben sich aber als unbegründet erwiesen: Alle waren sehr offen, wohlwollend und hilfsbereit und ich hatte nie Probleme, gemeinsame Gesprächsthemen zu finden. Ich profitiere auch sehr vom Erfahrungsschatz älterer Mitarbeitenden und konnte schon viel für mich mitnehmen. Ich habe schon viele wertvolle Kontakte geknüpft, die ich für die Zukunft mitnehme. 

Welche Vorteile hat für Sie eine Berufslehre gegenüber anderen Ausbildungen?

Juan Beer: «Vorteile» sind immer relativ, es ist eher eine Wahl, die man für sich trifft. Ich besuchte zuerst eineinhalb Jahre ein Gymnasium und habe dabei bemerkt, dass ich etwas anders funktioniere als der Durchschnittsgymnasiast. Deshalb habe ich mich schlussendlich für den Weg über Sekundarstufe und Lehre entschieden. Genau das schätze ich so an unserem Bildungssystem: Diese Flexibilität, dank der jeder seinen eigenen Weg finden kann. Wenn ich einen Vorteil der Berufslehre herausschälen müsste, wäre es die Möglichkeit, gleichzeitig in die Schule zu gehen und parallel dazu zu arbeiten. Nach diesen drei Jahren hat man einen erstaunlich hohen Fitnessgrad.

Seychelle Bailey: Meine Motivation für eine Lehre war, dass ich Berufserfahrungen sammle und selbst meinen Lohn verdienen kann. Mir war das sehr wichtig und deshalb war das Gymnasium nie ein Thema für mich. Bisher hat sich dieser Weg bewährt. 

Was glauben Sie hat sich in der KV-Lehre in den letzten Jahren verändert?

Seychelle Bailey: Ich glaube, dass sich in Sachen Digitalisierung in den letzten Jahren sehr viel getan hat. Das ist vermutlich auch der Coronapandemie geschuldet. Lehrmittel sind immer mehr digital, der Laptop ist unser stetiger Begleiter. 

Wie sehen Sie die Entwicklung der Berufsbildung in der Schweiz in den kommenden Jahren? Gibt es Veränderungen, die Sie für notwendig halten?

Juan Beer: Was mir im Schulsystem generell fehlt, ist die Anpassungsfähigkeit an aktuelle Entwicklungen. Man spricht zu wenig über geopolitische oder makroökonomische Dimensionen, die jungen Menschen helfen würde, sich in unserer komplexen Welt orientieren zu können. Dafür haben wir viele «historische» Fächer, die wir unhinterfragt weiterführen. Diese müssten wir in Frage stellen und dafür mit einer grösseren Dynamik aktuelle Themen einflechten. Welchen Einfluss haben die US-Wahlen auf uns? Weshalb kommt keine der sieben grössten Tech-Firmen aus Europa? Wie funktioniert unser politisches System? Diese Fitness ist in unserer Bevölkerung leider sehr tief. Es ist ein schlechtes Zeichen, wenn die Stimmbeteiligung der Jungen so tief ist und sie ältere Generationen quasi über ihre Zukunft entscheiden lassen. Nehmen wir AHV und BVG als Beispiel: In meiner Schulkarriere hat man diese Themen kurz gestreift. Das genügt nicht, wenn man bedenkt, welche Relevanz dies für das spätere Leben hat.  

Seychelle Bailey, wie weit decken sich die Fähigkeiten, die Sie in der Berufsschule mitbekommen mit dem, was Sie im Lehrbetrieb tatsächlich anwenden können?

Seychelle Bailey: Am wertvollsten sind für mich die Sprachen, denn diese brauche ich in meinem Arbeitsalltag täglich. Auch Themen aus dem Recht, wir behandeln zum Beispiel das Datenschutzgesetz, kann ich gut anwenden. Daneben gibt es viele Themen, die wir oberflächlich streifen und die wir nicht detailliert genug anschauen, als dass es mir im Arbeitsalltag tatsächlich helfen würde.  

Juan Beer, gibt es Erfahrungen aus Ihrer eigenen Lehrzeit, die Ihnen in Erinnerung geblieben sind und von denen Sie noch heute profitieren?

Juan Beer: Mir war der Kontakt zu Wegbegleitern aus der Lehre immer sehr wichtig – einige dieser Wegbegleiter sind sogar selbst noch bei Zurich. Diese Freundschaften bleiben. Was mich heute zudem noch stark prägt, ist, die Erfahrung gemacht zu haben, so ziemlich jede Abteilung zu sehen. Das hat mir ein Verständnis und einen grossen Respekt dafür ermöglicht, was die Leute in dieser Organisation machen. Ich kann die Wichtigkeit jedes einzelnen Schrittes einschätzen und sehe, wie jeder von ihnen zum Erfolg des Unternehmens beiträgt. Dies erlaubt es mir heute, den Menschen auf Augenhöhe zu begegnen.  

Seychelle Bailey

Seychelle Bailey Lernende Kauffrau EFZ bei Zurich.

Kürzlich haben Sie in einem Interview gesagt, dass Zurich eine gewisse Tradition darin hat, Lernende zu Mitgliedern der GL oder zu CEOs zu machen. Was braucht es, damit eine so langjährige Bindung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer entsteht?

Juan Beer: Es braucht sicherlich ein Verständnis für die verschiedenen Generationen und ein hohes Commitment. Dazu braucht es sehr viel Geduld. Zurich macht in meinen Augen eines sehr gut: Das Alter spielt nie eine Rolle. Das hat vielen Menschen die Möglichkeit gegeben, schon in jungen Jahren wertvolle Erfahrungen zu sammeln. Auch ich hatte immer den starken Drang, Aufgaben zu übernehmen, denen ich rein formell gesehen nicht gewachsen war. Aber bei Zurich hat man mir diese Möglichkeit gegeben und mich begleitet und unterstützt. Ich konnte in Aufgaben und Führungspositionen reinwachsen. Wenn ein Unternehmen dies zulässt und es schafft, Leute zu identifizieren, die diesen Weg gehen wollen, gibt das einen starken Kitt.  

Seychelle Bailey, wenn Sie Ihren CEO einen Tipp mitgeben könnten, wie Zurich als Arbeitgeber für junge Menschen attraktiv bleibt: Was würden Sie ihm raten?

Seychelle Bailey: Mehr Lohn! (beide lachen)  

Juan Beer: Diese Gelegenheit musstest du ja fast nutzen.

Seychelle Bailey: Spass beiseite –Zurich schenkt uns Lernenden ein sehr grosses Vertrauen und das schätze ich sehr. Fast ab Tag eins wurde ich mit Kundenkontakt betraut. Das sagt sehr viel über ein Unternehmen aus. Ich finde auch diese Altersdurchmischung sehr wertvoll. Das hilft, ein Netzwerk aufzubauen, andere Perspektiven kennenzulernen und sich weiterzuentwickeln.  

Juan Beer, welchen Tipp würden Sie Seychelle Bailey mitgeben, wenn auch sie eine Zukunft als CEO anstrebt?

Juan Beer: Eine Karriere ist ein Marathon. Und einen Marathon läuft man nicht, wenn man nicht trainiert ist und auch mal durchbeissen kann. Deshalb mein Rat: Trainieren, fitter werden, als die anderen und den Marathon nicht mit einem Sprint verwechseln. Ich finde es zudem sehr wichtig, in die eigene Persönlichkeit zu investieren. In einer Führungsposition wird das fachliche Wissen vorausgesetzt; es ist das Persönlichkeitsprofil, das einen echten Unterschied macht. Diese Entwicklung ist nie abgeschlossen, auch bei mir steht das mit bald 55 Jahren noch zuoberst auf der Agenda. Wenn man sich fragt: «Wer bin ich und wer möchte ich sein?» ist das im Leben generell hilfreich. Ich empfehle jungen, motivierten Personen zudem immer, nicht zu verbissen schon früh nach Führungserfahrung zu streben. Der Fokus sollte eher darauf liegen, Erfahrungen zu sammeln, um später mal zu führen. Das ist ein kleiner, aber feiner Unterschied. Was noch? Man sollte keine Entscheidungen nur aufgrund von Geld treffen, sondern vielmehr aufgrund von Aufgaben, die einem persönlich weiterbringen. Und selbst dann: Am Schluss braucht es auch ein Quäntchen Glück. 

Über:

Juan Beer (geb. 1970) ist seit Februar 2018 Chief Executive Officer (CEO) von Zurich Schweiz. Er stiess 1987 als Lernender zu Zurich und besetzte seit dann unterschiedliche lokale und globale Positionen. Seine Erfahrungen gibt er intern im Rahmen von Coachings weiter.  

Seychelle Bailey (geb. 2006) ist im dritten Lehrjahr als Kauffrau EFZ bei Zurich. Während sie im ersten Lehrjahr die HealthApp LiveWell kennenlernte, verbrachte sie das zweite Lehrjahr in einer Generalagentur und verstärkt aktuell das Sales-Team der Zurich Schweiz. Sie schliesst im Sommer 2025 ihre Lehre ab.