«Vi­rus­aus­brü­che wer­den an­fangs lie­ber ver­heim­licht»

Interview

Welche Viren sind für Menschen besonders gefährlich? Und wie wahrscheinlich ist es, dass wir in naher Zukunft weitere Pandemien erleben werden? Die Virologin Karin Moelling erklärt im Interview mit Daniel Schriber, weshalb sich das COVID-19-Virus so rasch ausbreitete – und warum das auch künftig kaum zu verhindern sein wird. 

Karin Moelling, sind Viren per se schlecht?

Viren sind nicht pauschal negativ zu betrachten. Wir sehen sie häufig nur als Krankmacher, dabei sind Viren ein wichtiger Bestandteil des Lebens. Sie sind Teil unseres Erbguts und treiben die Evolution voran. Zellen lernen zum Beispiel von ihnen, wie sie andere Viren abwehren können. Ohne Viren würden wir gar nicht leben.

Zum Glück haben nicht alle Viren so verheerende Auswirkungen wie das COVID-19-Virus. Welche Faktoren sind entscheidend, damit eine Pandemie so dramatische Konsequenzen hat? 

Nur Viren, die von Mensch zu Mensch gehen, sind gefährlich. Manche Viren «lernen» das erst im Laufe der Zeit. Von Viren, die man an menschliche Zellen anpasst – zum Beispiel im Labor aus Neugierde –, geht eine besonders grosse Gefahr aus. Beim COVID-19-Virus weiss man zwar bis heute nicht, ob Laborarbeiten zur hohen Ansteckungsrate beigetragen haben, Fakt ist aber: Das Virus ist zehnmal ansteckender als die Influenza. Umso wichtiger wäre es gewesen, eine hohe Ausbreitung sofort zu verhindern. Früherkennung und sofortige Massnahmen sind entscheidend.

Karin Moelling

Hat für ihre Forschungsarbeiten zur Bekämpfung von AIDS den Swiss Award erhalten: Virologin Prof. Dr. Karin Moelling. 

Weshalb gelang dies nicht?

Die meisten Virusausbrüche werden anfangs vielleicht gar nicht erkannt oder lieber verheimlicht – dies auch aufgrund der Hoffnung und Erwartung, sie doch noch beherrschen zu können. Zur darauffolgenden Ausbreitung tragen zwei Phänomene entscheidend bei: Menschendichten – zum Beispiel an Fussballspielen oder anderen Events – sowie eine hohe Reisefrequenz. Durch diese Phänomene werden Viren innert kurzer Zeit auf der ganzen Welt ausgebreitet.

«Weil die Bevölkerungsdichte und auch die Reisezahlen in den vergangenen Jahrzehnten enorm zugenommen haben, müssen wir davon ausgehen, dass sich eine solche Pandemie viel schneller wiederholt als in der Vergangenheit.»

Wie gross ist das Risiko, dass sich ein solches Pandemieereignis wiederholt? 

Nicht alle Viren können zu einer Pandemie führen. Ganz besonders dazu geeignet sind Corona- oder Influenzaviren. Bei Influenzaviren wissen wir, dass nach einem lokalen Ausbruch bei vielen Menschen für mehrere Jahre ein Immunschutz existiert, so dass nicht sofort eine neue Epidemie entsteht. Nachlassende Immunität kann hingegen zu neuen Pandemien führen. Weil zudem die Bevölkerungsdichte und auch die Reisezahlen in den vergangenen Jahrzehnten enorm zugenommen haben, müssen wir davon ausgehen, dass sich eine solche Pandemie viel schneller wiederholt als in der Vergangenheit.

Coronaviren gibt es schon lange. Warum kam es erst jetzt zur Pandemie?

Tatsächlich gab es schon mal eine Pandemie, die auf Coronaviren zurückzuführen war. Diese fand um 1890 bis 1896 statt und wurde als Russische Grippe bezeichnet. Die Pandemie breitete sich über die Eisenbahn weltweit aus, kam ebenfalls in mehreren Wellen und forderte eine Million Todesopfer. Dass es sich dabei höchstwahrscheinlich um ein Coronavirus handelte, ist erst seit kurzem bekannt. Heute – nach mehr als hundert Jahren – gehört das Virus der Russischen Grippe zu den normalen und ungefährlichen Winterviren, die nur zu Erkältungen führen. 

Gibt es aktuell weitere zirkulierende Viren, die eine ähnliche Gefahr aufweisen? 

Ja, auch von den Influenzaviren geht diese Gefahr aus. Tatsächlich ging die Forschung eigentlich davon aus, dass die neue Pandemie eher auf Influenza- als auf Coronaviren zurückzuführen ist. 

Welche Rahmenbedingungen braucht es für eine wirksame Pandemiebekämpfung? 

Die Vorsorge und die Vorhersage von solchen Ereignissen gehören zu den Kernaufgaben der Weltgesundheitsorganisation WHO. Gerade letzterer Punkt ist besonders anspruchsvoll: Je früher wir über potenziell gefährliche Viren informiert sind, desto besser. 

Gibt es weitere kritische Aspekte?

Ein Virus, das man an menschliche Zellen anpasst, bedeutet eine besondere Gefahr. Das kann zum Beispiel im Zusammenhang mit sogenannten «Gain of function»-Forschungsarbeiten (GOF) zur Vorhersage besonders gefährlicher Viren der Fall sein. Veränderungen von Viren werden in den meisten Laboratorien durchgeführt; zum Beispiel zur Behandlung von Krebs durch Gentherapie-Viren. Einige besonders gefährliche Viren und bestimmte Experimente sollten jedoch tabu sein. Dazu zählt das Anpassen von Viren an menschliche Zellen und einige Tiere. Kein Journal dürfte «GOF»-Daten publizieren – dann würden die Wissenschaftler diese Forschung unterlassen; denn Forschung lebt vom Publizieren als Basis für die Finanzierung. 

Wie überwacht man Corona- und andere gefährliche Viren?

Die WHO hat in der Vergangenheit Hervorragendes geleistet, wie bei HIV oder Corona-1. Bei Corona-2 hat die Organisation aber wohl eher versagt. Mit «CovRadar» wurde in Deutschland nun eine neue digitale Plattform ins Leben gerufen, auf der Coronavirus-Mutationen wissenschaftlich überwacht werden. Ziel der Plattform ist es, neue Mutationen aufzudecken. Ein Überwachungssystem für Influenza existiert bereits. Überwachungen von Viren sind jedoch schwierig, denn viele sind ja erstmal gar nicht so gefährlich.

«Wir leben in Grossstädten, lieben Massenveranstaltungen, reisen – wir sind die Täter bei Pandemien und erst danach die Opfer.» 

Was können wir tun, damit sich solche Pandemieereignisse nicht wiederholen?

Wenig. Wir leben in Grossstädten, lieben Massenveranstaltungen, reisen – wir sind die Täter bei Pandemien und erst danach die Opfer. 

Somit sind wir faktisch machtlos?

Die Überwachung ist wichtig. Das ist zwar schwierig, aber besser denn je möglich. Dabei müssen jedoch alle mithelfen: Forscher, Politiker, Ärzte, Ämter – einfach jedermann. 

Risiken, die die Schweiz bedrohen

Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz BABS hat in einem Risikobericht identifiziert, welche Gefahren die Schweiz bedrohen. Dazu gehören unter anderem Naturkatastrophen aller Art, grossflächige Cyberattacken, Pandemien oder Strommangellagen. Diese Toprisiken sind für die Versicherungswirtschaft eine Herausforderung, weil sie rein privatwirtschaftlich nicht flächendeckend versicherbar sind. Ihr Schadenpotenzial übersteigt die Kapazitäten der Versicherer. Zudem sind die Schäden nicht unabhängig voneinander und treten gleichzeitig bei allen ein. Dies verunmöglicht die Risikoverteilung, ein wesentliches Prinzip der Versicherung. Die Versicherungswirtschaft ist bestrebt, für diese Risiken gemeinsam mit Partnern wie dem Bund Lösungen zu finden, damit diese Risiken für Wirtschaft und Gesellschaft finanziell tragbar bleiben.

Haben wir den richtigen Umgang mit dem Virus gefunden?

Uralte Umgangsweisen gelten noch immer: Gegen Pandemieviren gibt es nur Abstand oder Isolation. Mehr lernen müssen wir über: Masken, Kondome, Hygiene, Desinfektionen, saubere Umwelt, neue Arbeitsbedingungen, andere Architektur, neue Filtersysteme, billige, einfache und viel schnellere Nachweisverfahren, neue Medikamente, bessere IT etc. Und die Impfung, die ab jetzt sofort möglich ist, wirkt für hoffentlich viele Viren, die wird auch in Zukunft das Schlimmste verhindern können. 

Sind wir nun wenigstens bereits etwas besser für eine nächste Pandemie gerüstet?

Noch nicht! 

Zur Person

Prof. Dr. Karin Moelling (78) ist Virologin und befasst sich insbesondere mit Viren in der Krebsforschung sowie mit HIV. Sie war unter anderem Professorin und Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie an der Universität Zürich (1993–2008) und Forschungsgruppenleiterin am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin (1976–1993). Für einen wegweisenden Durchbruch in der Bekämpfung von AIDS wurde sie 2008 mit dem Swiss Award ausgezeichnet. Seit 2008 ist sie emeritiert und forscht weiter über Viren im Darm und gegen Krankenhausinfektionen – und sie schreibt Bücher.