«Dass der Strom fliesst, ist für viele einfach selbstverständlich»
Was, wenn plötzlich die Lichter ausgehen? Die Strommangellage gehört zu den grössten Risiken für die Schweiz. Maurice Dierick von der nationalen Netzgesellschaft Swissgrid erläutert im Interview mit Daniel Schriber, warum er die Einschätzung des Bundesamtes für Bevölkerungsschutzes teilt – und wie die Schweiz auf dieses Szenario vorbereitet ist.
Maurice Dierick, im Risikobericht des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz wird die Strommangellage als grösstes Risiko für die Schweiz eruiert. Wie beurteilen Sie diese Einschätzung?
Ohne Strom geht heute fast nichts mehr. Elektrizität gehört mit zu den wichtigsten Gütern unserer modernen Industriegesellschaft. Das Übertragungsnetz spielt dabei als Rückgrat der Schweizer Stromversorgung eine zentrale Rolle. Entsprechend schätzt das Bundesamt für Bevölkerungsschutz zu Recht eine Strommangellage als grösstes Risiko ein.
Warum ist die Gefahr so gross?
Zunächst einmal muss man zwischen Strommangellage und Stromausfall unterscheiden. Ein Stromausfall ist ein grossräumiger, regionaler Stromausfall während mehrerer Tage. Es passiert in Echtzeit ohne Vorwarnung. Eine Strommangellage ist eine Mangellage nach Artikel 2 des Landesversorgungsgesetzes. Dieses Ereignis kann die Wirtschaft nicht aus eigener Kraft überwinden. Grundsätzlich gehört das Schweizer Übertragungsnetz jedoch zu den sichersten der Welt.
Aber?
Der Systemstress beziehungsweise die Systembelastung nimmt mittel- und langfristig zu. Neue erneuerbare Energien bringen zwar Erzeugungskapazität mit, haben aber Stand heute noch nicht die gleiche Stabilität in der Energiemenge wie die klassische Stromerzeugung. Aufgrund ihrer Volatilität erschweren sie vielmehr die Systemstabilität. Zudem haben wir in den vergangenen vier, fünf Jahren gesehen, dass unser System eine gewisse Anfälligkeit aufweist.
Was bedeutet das konkret?
Nach trockenen Sommern und niedrigen Wasserständen in den Flüssen steigt die Abhängigkeit von Kernkraft und Stromimporten aus dem Ausland. Fällt die Produktion der Kernkraft ersatzlos aus, müssen die Stromimporte erhöht werden. Deshalb hat Swissgrid prioritär die Transformatorenkapazität an der Nordgrenze erhöht. Aufgrund der Energietransition ist insbesondere die Zwischenphase mit Importabhängigkeiten im Winter in den nächsten fünf bis 15 Jahren riskant, bis sich ein neues Energiesystem stabilisiert hat.
Trägt dazu bei, dass in der Schweiz nicht plötzlich die Lichter ausgehen: Maurice Dierick, Leiter Market und Mitglied der Geschäftsleitung bei Swissgrid.
Welche Ursachen können zu einer Strommangellage führen?
Es gibt verschiedene Faktoren: zu wenig Wasser in Stauseen und Flüssen, der Wegfall von Kernkraftwerken ohne nachhaltigen Ersatz oder auch reduzierte Möglichkeiten zum Stromimport aus dem europäischen Ausland. Wichtig ist, dass diese Faktoren nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können.
Eine politische Strominsel ist technisch nicht realisierbar und muss deshalb unbedingt vermieden werden.
Wie wichtig ist der grenzüberschreitende Austausch im Strombereich?
Die enge Vermaschung mit dem europäischen Netz – die Schweiz hat 41 grenzüberschreitende Leitungen – trägt grundsätzlich zur Stabilität bei: Je enger ein Netz geknüpft ist, desto geringer sind die Auswirkungen, sollte mal ein Knoten reissen. Wenn es aber zur Grossstörung kommt, sind auch alle davon betroffen. Eine politische Strominsel ist technisch nicht realisierbar und muss deshalb unbedingt vermieden werden. Dafür braucht es aber ein Stromabkommen mit der EU.
Die Schweiz übernimmt seit jeher eine Drehscheibenfunktion im europäischen Strommarkt. Ohne Stromabkommen ist diese Rolle in Gefahr: Mit welchen Folgen könnte ein solches Szenario verbunden sein?
Wir können hier nur über die Folgen des Stromabkommens sprechen. Die Stabilität des europäischen Verbundnetzes basiert auf dem Prinzip, dass sich alle Teilnehmer an dieselben Spielregeln halten. Ziel der EU ist die Vollendung des Binnenmarktes für Strom. Während die EU mit der Implementierung des dritten Binnenmarktpakets fortschreitet, entfernen sich die dort festgelegten Regeln für den Netz- und den Marktbetrieb immer weiter von den entsprechenden Schweizer Regularien.
Können Sie ein Beispiel dafür nennen?
Schon heute sind die Schweizer Marktakteure von der «Day-Ahead»- und der «Intraday»-Marktkopplung mit der EU ausgeschlossen. Für Swissgrid bedeutet dies einen immer weiter gehenden Ausschluss, so dass mehr Energie in der Schweiz vorgehalten werden muss, um das Netz stabilisieren zu können. Diese Energie stünde dann nicht mehr für die Stromversorgung der Endkunden zur Verfügung, was unter anderem zu höheren Kosten führen würde.
Mit welchen Konsequenzen?
Ohne Stromabkommen wird sich die Schere in der Gesetzgebung zwischen der Schweiz und Europa weiter öffnen, da weder die Revision des Stromversorgungsgesetzes noch die Revision des Energiegesetzes wesentliche Aspekte der europäischen Gesetze aufgreifen. So bleiben ohne ein Stromabkommen unter anderem wesentliche Fragen bezüglich Haftung, Kostentragung und Streitbeilegung ungeklärt.
Das Bewusstsein für die Wichtigkeit einer kritischen Infrastruktur muss weiter gestärkt werden.
Hat die Pandemie dazu beigetragen, dass sich die wesentlichen Stakeholder verstärkt mit dem Szenario einer Strommangellage auseinandersetzen?
Dass der Strom fliesst, ist für viele einfach selbstverständlich. Das Bewusstsein für die Wichtigkeit einer kritischen Infrastruktur muss weiter gestärkt werden. Die Übertragungsnetzbetreiber ihrerseits tun schon vieles dafür. In der Schweiz, wie auch im Rest Europas, wird für den Fall von unvorhergesehenen Schwankungen in der Produktion oder im Verbrauch Regelleistung vorgehalten, die im Notfall zur Stabilisierung des Netzes eingesetzt werden kann. Ebenfalls verfügt die Schweiz mit dem Bundesamt für die wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) und seiner Organisation für Stromversorgung in Ausserordentlichen Lagen (OSTRAL) über eine gute Vorbereitung für eine Strommangellage.
Risiken, die die Schweiz bedrohen
Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz BABS hat in einem Risikobericht identifiziert, welche Gefahren die Schweiz bedrohen. Dazu gehören unter anderem Naturkatastrophen aller Art, grossflächige Cyberattacken, Pandemien oder Strommangellagen. Diese Toprisiken sind für die Versicherungswirtschaft eine Herausforderung, weil sie rein privatwirtschaftlich nicht flächendeckend versicherbar sind. Ihr Schadenpotenzial übersteigt die Kapazitäten der Versicherer. Zudem sind die Schäden nicht unabhängig voneinander und treten gleichzeitig bei allen ein. Dies verunmöglicht die Risikoverteilung, ein wesentliches Prinzip der Versicherung. Die Versicherungswirtschaft ist bestrebt, für diese Risiken gemeinsam mit Partnern wie dem Bund Lösungen zu finden, damit diese Risiken für Wirtschaft und Gesellschaft finanziell tragbar bleiben.
Bis ins Jahr 2025 investiert Swissgrid 2,5 Milliarden Franken für den regelmässigen Unterhalt, die Erneuerung und einen bedarfsgerechten Ausbau des Stromnetzes. Welche Rolle spielt der Netzausbau bei der Stabilisierung des Systems?
Die angespannte Energie- und Netzsituation im Winter 2015/2016 mit sehr tiefen Füllständen der Speicherseen hat die Dringlichkeit des Netzausbaus unterstrichen, besonders bei der Importkapazität. Im «Strategischen Netz 2025» hat Swissgrid das Netz geplant, das die Schweiz unter Berücksichtigung der Energiestrategie 2050 bis im Jahr 2025 braucht. Nur so können die exzellente Versorgungssicherheit und der damit verbundene Wettbewerbsvorteil für die Schweizer Wirtschaft langfristig gewährleistet werden.
Welche Bedeutung hat der Netzausbau im Zusammenhang mit der grösser werdenden Bedeutung von erneuerbaren Energien?
Schon heute hält der Netzausbau nicht mit dem Ausbautempo der erneuerbaren Energien Schritt. Steigt die Anzahl der Netzprojekte aufgrund der Förderung von erneuerbaren Energien, dürfte sich dies weiter akzentuieren. Auf der betrieblichen Seite wären die Folgen ungewohnte Netzflüsse und
-engpässe. Es braucht auch neue innovative Lösungen, um den Wegfall der traditionellen Quellen kompensieren zu können.
Wie zum Beispiel?
Angesichts des wachsenden Anteils der fluktuierenden erneuerbaren Energien und der geplanten Abschaltung der Kernkraftwerke muss das Stromsystem flexibler werden. Nebst Strom- oder Wasserspeichern könnten weitere Technologien hinzukommen, mit denen es möglich ist, Energie vom Sommer in den Winter zu verschieben. Eine kosteneffiziente und sichere Nutzung dezentraler Flexibilitätsressourcen wie Speicher, Elektroautos, Batteriespeicher oder Wärmepumpen sind ein vielversprechender Ansatz, um das Stromnetz auf der Verbraucherseite flexibler zu gestalten.
Zur Person
Maurice Dierick ist im Februar 2015 zu Swissgrid gestossen. Seit Juni 2016 ist der Maschinenbauingenieur Mitglied der Geschäftsleitung, zunächst als Leiter Grid, seit Januar 2019 als Leiter Market.
Über Swissgrid
Swissgrid ist die nationale Netzgesellschaft und verantwortet als Eigentümerin den sicheren und diskriminierungsfreien Betrieb sowie den umweltverträglichen und effizienten Unterhalt, die Erneuerung und den Ausbau des Schweizer Höchstspannungsnetzes. An den Standorten in Aarau, Prilly, Castione, Landquart, Laufenburg, Ostermundigen und Uznach beschäftigt das 2006 gegründete Unternehmen rund 600 Mitarbeitende. Verschiedene Schweizer Elektrizitätsunternehmen halten gemeinsam die Mehrheit des Aktienkapitals von Swissgrid.