Der Ge­ne­ra­tio­nen­ver­trag über­zeugt

Interview

Jérôme Cosandey ist Directeur romand von Avenir Suisse und setzt sich als Forschungsleiter «Tragbare Sozialpolitik» mit der Altersvorsorge, Gesundheitspolitik sowie mit dem Generationenvertrag auseinander. Er erklärt, warum «Überalterung» ein ungünstiger Begriff ist und es der Erfolg des Dreisäulensystems schwieriger macht, Reformen umzusetzen. 

Herr Cosandey, wenn wir über die Altersvorsorge sprechen, fällt schnell der Begriff des Generationenvertrags: Überzeugt er auch heute noch? 

Vielleicht sogar besser als je zuvor. Die laufenden Reformen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Vorsorgesystem mit seinen drei Säulen überaus stabil und resilient ist, trotz Pandemie und Finanzkrise. Und vor allem umfasst der Generationenvertrag weit mehr als nur die Altersvorsorge. Er ist nicht rein finanzieller Natur, sondern ist auch zeitgebunden, emotional und familienbezogen. Früher war das deutlicher sichtbar, als die Grosseltern noch auf dem Hof lebten, während die nächste Generation diesen übernahm – aber heute ist der Generationenzusammenhalt nicht weniger stark. Vor allem ist er entspannter und weniger patriarchal. Dafür aber auch entsprechend komplexer, weil die Generationen oft nicht mehr in räumlicher Nähe wohnen. Familien fungieren trotzdem noch immer als erstes soziales Netz.

Zum Beispiel bei schwierigen Situationen wie Scheidung oder Arbeitslosigkeit. Oder für die Betreuung der Enkel oder die Pflege der (Schwieger-)Eltern. Dort, wo die Familie nicht ausreicht oder sie nicht aktiv werden kann, setzt die Zivilgesellschaft an: Mit freiwilliger Hilfe beim Juniorentraining im Fussball, bei der Pfadi oder auch als Taxidienst zum Gottesdienst. Und erst dann kommt der Staat, zum Beispiel mit der Gesundheitsversorgung oder eben auch der Altersvorsorge. 

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Bekommt auch dieser Teil des Generationenvertrags die sogenannte Überalterung der Gesellschaft zu spüren? 

«Überalterung» finde ich einen ungünstigen Begriff. Ich spreche lieber von der «Alterung» der Gesellschaft, denn wir haben im Vergleich zur Erwerbsbevölkerung zwar mehr Rentner, aber ja nicht zu viele, oder? Und viele der sogenannten «Babyboomer», die jetzt in Rente gehen, werden sich als aktive «Jungrentner» in die Gesellschaft einbringen. Auch wenn der Generationenvertrag als Ganzes betrachtet werden muss, heisst es nicht, dass einzelne Kapitel des Vertrags aus dem Gleichgewicht kommen dürfen, wie zum Beispiel die «Altersvorsorge». Diese ist vor grosse Herausforderungen gestellt. Nicht nur aufgrund der Alterung, sondern auch aufgrund der Kapitalmarkterträge und der neuen Arbeitsformen, die sich seit dem Eingang des Dreisäulensystems in die Verfassung stark verändert haben.

«Überalterung» finde ich einen ungünstigen Begriff. Ich spreche lieber von der «Alterung» der Gesellschaft, denn wir haben im Vergleich zur Erwerbsbevölkerung zwar mehr Rentner, aber ja nicht zu viele, oder?

Muss der Generationenvertrag an diese neuen Umstände angepasst werden? 

Der Generationenvertrag wird schon jetzt laufend angepasst. Allerdings implizit und ohne Zustimmung der jüngeren «Vertragspartei». Denn die Lebenserwartung nimmt stetig zu und damit die Dauer des Leistungsbezugs. Wenn jetzt eine Partei ohne Zustimmung der anderen die Klauseln des Vertrags ändert, ist es nur fair, dass man miteinander am Tisch diskutiert, wie man ihn nachjustiert. Bitte nicht falsch verstehen: Die gestiegene Lebenserwartung ist eine wunderbare Sache, die es zu feiern gilt – aber sie führte eben dazu, dass die Leistung über die Jahre dauernd ausgebaut wurde.

Wie könnte man ihn denn nachjustieren? 

Wichtig ist zu realisieren, dass wir das nicht nur mit zusätzlichen Geldmitteln lösen können. Das würde die finanziellen Probleme zwar im ersten Augenblick lösen, aber es wäre auch eine zusätzliche Belastung, die auf die künftigen Generationen zukäme und wäre eben eine Verletzung des Generationenvertrags. Deshalb müssen wir auch strukturelle Massnahmen ergreifen. Zum Beispiel indem wir das Rentenalter erhöhen. 

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Das klingt, als bräuchte es eine grosse Reform. 

Eigentlich zeichnet sich unser System dadurch aus, dass es eine Politik der kleinen Schritte ermöglicht. An jeder der drei Säulen kann nachjustiert werden, ohne das ganze Regelwerk in Frage stellen zu müssen. Die berufliche Vorsorge mit ihren ca. 1500 Pensionskassen ist dezentralisiert und fördert so kleine Reformschritte. Die allermeisten Pensionskassen (ca. 85 Prozent) sind der aktuellen BVG-Reform schon vorausgeeilt und haben die berufliche Vorsorge der heutigen Arbeits- und Wirtschaftsrealität bereits angepasst. Dass es Reformen dann trotzdem oftmals schwer haben, ist auch ein Preis für den Erfolg dieses dezentralisierten Systems. Der politische Druck ist einfach nicht mehr so gross. 

Braucht es die aktuelle BVG-Reform dann überhaupt?

Nicht überall hatte man schon die Möglichkeit, diese Anpassungen vorzunehmen. Auch für diese verbleibenden 15 Prozent der BVG-Versicherten muss eine Lösung gefunden werden. Je länger wir aber verhältnismässig kleine Schritte aufschieben, desto mehr wächst der Bedarf für eine grosse Reform.