Nach­hal­tig­keit war nicht ges­tern

News28. April 2020

Am 4. Mai beginnt die Sondersession der Eidgenössischen Räte. Thema ist die Bewältigung der Coronakrise. Gelegenheit für eine Standortbestimmung. Ein Kommentar von Thomas Helbling. 

Keiner von uns weiss, wie lange die Coronakrise dauert. Wir können auch noch nicht sagen, ob wir sie gut oder schlecht gemeistert haben. Aus Sicht des Branchenverbandes der Schweizer Privatversicherer möchten wir trotzdem erste Lehren ziehen, für das weitere Handeln in und nach der Krise. Vieles ist anders als vorher, aber nicht alles ist neu. Nachhaltigkeit ist und bleibt ein Thema. Vor allem auch dort, wo sie bisher nicht so hell erstrahlt ist – zum Beispiel bei der Vorsorge für Jung und Alt.

Der Schuldenberg darf nicht weiter anwachsen

Die Bewältigung der Coronakrise wird uns teuer zu stehen kommen. Auch wenn sich zurzeit alle Staaten bis über die Ohren verschulden (müssen) und auch in unserem Land etatistisch gesinnte Politiker nicht müde werden, uns einzureden, dass genug Geld vorhanden ist, so wissen wir doch auch: Schulden müssen irgendwann zurückbezahlt werden. Je höher sie sind, desto weiter reichen sie in die Zukunft und belasten die kommenden Generationen. Das ist das Gegenteil von nachhaltig. Der Schuldenberg darf nicht noch weiter anwachsen.

Angesichts der hohen Kosten, die mit Covid-19 auf die Sozialversicherungen zukommen, ist auf geplante Vorhaben für den Sozialausbau, die Gesellschaft und Wirtschaft durch zusätzliche Ausgaben belasten, dringend zu verzichten. Die vordringlichen Reformen in der AHV und der beruflichen Vorsorge (BVG) sind zudem so zu gestalten, dass sie unsere Nachkommen entlasten und nicht auf absehbare Zeit ruinieren. Die Senkung des Umwandlungssatzes, die Erhöhung des Referenzalters für Frauen wie auch die Enttabuisierung der Erhöhung des Rentenalters an sich sind zwingende Voraussetzungen. Auf der anderen Seite müssen die vom Bundesrat zu Recht ergriffenen sozialpolitischen Notmassnahmen nach der Krise wieder zurückgenommen werden, denn soziale Frieden im Land ist ein hohes Gut. Er darf und soll uns etwas kosten. Zu hohe Staatsschulden und zu viel Regulierung können ihn gefährden.

Diversifikation ist ein Erfolgsfaktor

Die Bewältigung der Coronakrise ruht auf vielen Schultern. Sie fängt bei Bundesrat und Parlament an und geht über Kantone und Gemeinden, Armee und Wirtschaft, Gesundheitswesen und Logistik bis hin zu jedem einzelnen von uns. Der föderale Staatsaufbau, das Subsidiaritätsprinzip und der Milizgedanke spiegeln die Vielfalt im Land und die gelebte Verantwortung auf allen Ebenen. Das sind ideale Voraussetzungen, um die aktuelle Krise zu meistern. Zu Beginn hat der Bundesrat ein Schwergewicht auf die schweizweite Einheitlichkeit seiner Massnahmen gelegt. Jetzt darf man auch dem Föderalismus wieder mehr Raum geben, denn Vielfalt ist ein Erfolgsfaktor. Auch das schweizerische Vorsorgesystem zeichnet sich durch die Qualität der Diversifikation aus. Es steht auf drei Säulen. Einer staatlichen, einer beruflichen und einer privaten. Es hat einen obligatorischen und einen freiwilligen Teil, es ist staatlich und privat organisiert. Die Risiken sind verteilt. Alle sind eingebunden. Die Schweizer Privatversicherer setzen sich dafür ein, dass die Vorsorge für Jung und Alt weiterhin von drei starken Säulen getragen wird. Es braucht auch in Zukunft Selbstverantwortung. Der Staat kann und soll nicht alles. Auch eine wichtige Erkenntnis, die inmitten der Coronakrise Bestätigung erfährt und auch für unsere Nachkommen Richtschnur sein soll.

Selbstverantwortung und Solidarität

«Wir leben in einer Demokratie, in einem liberalen Rechtsstaat. Die Bürgerinnen und Bürger haben es jetzt in der Hand zu zeigen, dass wir es in der Schweiz auch anders können als in zentralistisch regierten Staaten, wo (…) noch mehr Bewegungseinschränkungen notwendig sind…» Treffender kann man Selbstverantwortung kaum beschreiben, als es der Zürcher Regierungsrat Mario Fehr in seinem Corona-Update vom 2. April getan hat. Selbstverantwortung und Solidarität haben denn auch viele von uns gezeigt, die sich etwa freiwillig zu Militär- und Gesundheitsdienst meldeten, die Nachbarschaftshilfen auf die Beine stellten oder die als Vermieter und Mieter aufeinander zugegangen sind. Auch die Versicherungswirtschaft nimmt ihre volkswirtschaftliche Verantwortung wahr. Selbst in der aktuellen Krise vergütet sie täglich 139 Millionen Franken für Schadenfälle und Renten. Sie hilft so, die Liquidität ihrer Kunden zu erhalten. Sie achtet auf eine rasche Schadenabwicklung, gewährt Prämienstundungen und kommt vielen ihrer Geschäfts- und Privatkunden auf mannigfache Weise entgegen. Gleichzeitig muss jeder Versicherer aber auch die Interessen des Versichertenkollektivs als Ganzes im Auge behalten. Schäden, die nicht versichert sind, kann und darf er nicht übernehmen. Täte er dies pauschal für Betroffene ohne Deckung, würde er damit das feintarierte Versicherungssystem aus den Angeln heben – und dies auf Kosten aller anderen Versicherten.

Unter Zeitdruck wird vieles möglich

Die Krise hat uns gezeigt, wie rasch und unkompliziert in der Not gehandelt werden kann. Vieles, das unmöglich schien, wird unter Zeitdruck plötzlich machbar. Dabei geht zwar die Einfachheit auf Kosten der Genauigkeit. Das muss jedoch nicht per se ein Nachteil sein.

Der gewohnte demokratische Prozess in der Schweiz ist langsamer. Viele Instanzen sind eingebunden, zuletzt auch das Volk. Trotzdem ist zu hoffen, dass wir vom Tempo in der Krise etwas in die Zeit danach mitnehmen können. Es gilt, dringende Projekte zu einem raschen Abschluss zu bringen. Dazu gehört ganz zuvorderst die Reform der Vorsorge für Jung und Alt. Sie verdient mehr Nachhaltigkeit.

Dieser Artikel basiert auf einem Gastkommentar von Thomas Helbling, der am 27. April 2020 in der NZZ erschienen ist.