«Die Situation erinnert an den Dotcom-Boom»
Künstliche Intelligenz (KI) verändert die Art und Weise, wie Versicherungen arbeiten und wie sie mit ihren Kundinnen und Kunden interagieren. Der international renommierte Experte Evangelos Avramakis erklärt, warum die Branche nun zügig handeln sollte.
Evangelos Avramakis, die Versicherungsbranche beschäftigt sich intensiv mit KI: Handelt es sich um einen Hype, oder wird KI die Branche langfristig verändern?
Die aktuelle Situation erinnert an den Dotcom-Boom der späten 90er-Jahre, als das Internet zugänglicher wurde. Auch damals fragte man sich, wie diese Entwicklung unsere Branche verändern würde. Ähnlich verhält es sich mit KI: Ihr volles Potenzial ist noch schwer zu erfassen, doch sie wird die Versicherungswirtschaft nachhaltig prägen.
Inwiefern?
Der Nutzen von KI zeigt sich derzeit vor allem in effizienteren Arbeitsprozessen. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Die Auswirkungen werden weit über das hinausgehen, was wir uns heute vorstellen können. Entscheidend ist, wie schnell sich Versicherer an diese neue Realität anpassen. Das klassische Geschäftsmodell wird in absehbarer Zeit nicht mehr tragfähig sein.

Evangelos Avramakis ist Leiter für Foresight, Intelligence & Development bei Swiss Re. Der 55-Jährige ist ein international anerkannter Experte für zukunftsweisende Marktentwicklungen, digitale Ökosysteme und innovative Geschäftsmodelle in der Versicherungsbranche.
Unsere Arbeit wird sich somit grundlegend verändern?
Versicherungen sind Vertrauensprodukte. Dieses Vertrauen kann zwar digital abgebildet werden, zeigt sich aber eindrücklich im Schadenfall. Dann zählt persönliche, empathische Betreuung. Erst in solchen Situationen kann der Kunde beurteilen, ob das Produkt hält, was es verspricht. Zwischenmenschlichkeit, Empathie und individuelle Beratung werden zunehmend entscheidende Faktoren sein, um Kunden langfristig zu binden.
Welche Rolle spielt der Austausch von Informationen dabei?
Versicherungen und Risikomodellierungen müssen personalisierter, effizienter und «intelligenter» werden; Kunden wollen auf sie zugeschnittene Lösungen. Detaillierte Risikoprofile sind dank KI möglich und ermöglichen gezieltere Empfehlungen sowie neue Ansätze – zum Beispiel in der Prävention, Betreuung oder auch im Vertrieb. Es reicht nicht mehr, zweimal im Jahr ein Schreiben oder eine Rechnung zu schicken. Der Schlüssel liegt in einer intensiveren Interaktion.
Der Mensch bleibt also unverzichtbar?
Es geht nicht um «Wir oder die Maschine», sondern um die richtige Balance und die Erkenntnis darüber, welche Art der Interaktion Mehrwerte für Kunden und Versicherer schafft. Routinetätigkeiten wie das Ausfüllen von Formularen lassen sich problemlos automatisieren. Anders sieht es bei emotionalen Situationen aus: Sobald es um Themen wie Krankheit, Arbeitsverlust, Unfall oder Todesfall geht, ist Empathie unverzichtbar. Mitarbeitende müssen in der Lage sein, diese sensiblen Momente angemessen zu begleiten. KI kann dabei unterstützen, indem sie beispielsweise in Echtzeit Handlungsempfehlungen gibt, um Gespräche einfühlsamer zu gestalten.
Was muss die Versicherungsbranche in Bezug auf KI jetzt tun?
Ich möchte nochmals auf den Vergleich mit dem Dotcom-Boom zurückkommen. Wenn die Branche bei der Anpassung genauso langsam reagiert wie damals beim Aufkommen des Internets, werden einige Unternehmen schlichtweg irrelevant. Die grossen Chancen für Wachstum liegen auf der Hand, doch sie erfordern konsequentes Handeln und ein angepasstes Mindset. Aktuell sind Tempo und Anspruch womöglich zu tief.»