Das Hochwasser 2005: ein Wendepunkt für die Versicherer
Vor 20 Jahren traf ein Jahrhunderthochwasser die Schweiz mit voller Wucht. Heute wären die Schäden um ein Drittel tiefer – dank präventiver Massnahmen und neuer Erkenntnisse aus der Forschung.
Als Hanspeter Bieri, langjähriger Schadenexperte bei der Baloise, an jenem Montagmorgen im August 2005 zur Arbeit erschien, ahnte er nicht, dass dies der Auftakt zu den intensivsten Wochen seiner beruflichen Laufbahn sein würde. «Wir erhielten auf einen Schlag extrem viele Schadenmeldungen aus der halben Schweiz. So etwas hatte ich zuvor noch nie erlebt», erinnert sich Bieri, heute 69 Jahre alt. Von früh bis spät arbeitete das Team am Hauptsitz in Basel, sammelte Schadendaten, koordinierte Inspektorinnen und Inspektoren und informierte die betroffene Bevölkerung über Radiospots, wie sie im Schadenfall vorzugehen haben. «Wochenlang kamen wir nicht vor 22 Uhr nach Hause – selbst am Samstag wurde gearbeitet.»
Die Dimensionen des Unwetters waren in der Tat enorm: Hunderte von Häusern, Strassen und Bahnlinien wurden zerstört. Besonders betroffen waren das Berner Oberland, die Zentralschweiz und die Ostschweiz. Der grösste Einzelschaden, an den sich Bieri erinnert, belief sich auf rund 75 Millionen Franken. Viele Unternehmen hatten keine Betriebsunterbruchversicherung abgeschlossen und standen vor dem Ruin. «Nach diesem Ereignis stieg die Nachfrage nach solchen Versicherungen markant an», so Bieri.
«Wochenlang kamen wir nicht vor 22 Uhr nach Hause.»
Das Hochwasser 2005 war nicht nur ein Ausnahmeereignis, sondern auch ein Weckruf für die Branche und die Gesellschaft. Prof. Dr. Andreas Paul Zischg vom Mobiliar Lab für Naturrisiken der Universität Bern war damals als junger Ingenieur in Graubünden tätig und schrieb an seiner Dissertation zum Thema Naturgefahren. «Das Ereignis zeigte eindrücklich, wie verwundbar unsere Siedlungsräume sind», sagt Zischg.
Als Reaktion auf die Katastrophe wurde der Präventionsfonds der Mobiliar ins Leben gerufen. Daraus entstand 2013 das Mobiliar Lab für Naturrisiken, das gezielt zur Hochwasserprävention forscht. «Unser Ansatz ist eine ganzheitliche Betrachtung vom Regen bis zum Schaden», erklärt Zischg. Die Forschung verbindet meteorologische, hydrologische und geografische Erkenntnisse, um mit modernen Datenmodellen künftige Risiken besser vorherzusagen. «Dank neuer Schutzbauten, wie etwa den Seeregulierungen im Berner Oberland, wären die Schäden heute bei gleichen Niederschlagsmengen wie 2005 sicherlich deutlich tiefer.»
Nicht alle Kantone gehen derweil gleich mit Naturgefahren um: So haben die GUSTAVO-Kantone (Genf, Uri, Schwyz, Tessin, Appenzell Innerrhoden, Wallis und Obwalden) keine kantonalen Gebäudeversicherungen. Während in den anderen Kantonen eine obligatorische kantonale Gebäudeversicherung besteht, können Unternehmen und Privatpersonen in den GUSTAVO-Kantonen ihren Versicherer frei wählen. Dies bedeutet einerseits mehr Wettbewerb, andererseits aber auch die Pflicht zur Zusammenarbeit im Schadenfall.
«Die Erfahrungen aus dem Unwetter 2005 haben uns gezeigt, wie wichtig eine gute Koordination zwischen den kantonalen und den nationalen Stellen ist», erklärt Marie-Claude Noth-Ecoeur, Präsidentin der GUSTAVO-Kantone und Dienstchefin für zivile Sicherheit im Wallis. Seit dem Ereignis 2005 sei die interkantonale Zusammenarbeit stark ausgebaut worden – etwa durch regelmässige Sicherheitstage und gemeinsame Übungen der Partnerorganisationen. Darüber hinaus wurden nach der Katastrophe vielerorts Schutzmassnahmen umgesetzt, um zukünftige Schäden zu minimieren. So hat zum Beispiel der Kanton Zürich eine ganze Reihe von Massnahmen zur Reduktion des Hochwasserrisikos an Sihl, Zürichsee und Limmat umgesetzt. Auch wenn die Schweiz heute somit deutlich besser aufgestellt ist, bleibt die Gefahr bestehen. «Wir haben in den letzten Jahrzehnten viele ehemalige Flutgebiete bebaut », warnt Forscher Andreas Zischg. «Der Klimawandel und das Wachstum der Siedlungsflächen werden in Zukunft für mehr Schadenereignisse sorgen.» Die Lehren aus dem Hochwasser 2005 bleiben daher auch 20 Jahre später von zentraler Bedeutung.
Diese Ereignisse prägen den Umgang der Versicherungswirtschaft mit Grossrisiken.
1861: Der Brand von Glarus zerstört zwei Drittel des Dorfes. Die im Anschluss angestrebte Gründung eines kantonalen Rückversicherungsverbandes misslingt. Die Helvetia, die Basler Handelsbank und die Schweizerische Kreditanstalt gründen dennoch 1863 die Schweizer Rück, um zu verhindern, dass die Prämien ins Ausland abfliessen.
1906: Das Erdbeben von San Francisco führt dazu, dass sich Versicherer verstärkt mit dem möglichen Höchstschaden und deren globalen Absicherung befassen.
1936: Der Schweizer Elementarschadenpool wird in einer ersten Version gegründet. Im Schadenfall sorgt der Pool für einen Ausgleich zwischen den damals in der Schweizerischen Feuer-Versicherungs-Vereinigung (SFV) zusammengeschlossenen Gesellschaften.
1950/51: Verheerende Lawinen prägen den Winter. In der Folge koppeln 1953 die Feuerversicherungen die Feuerdeckung mit der Deckung von Schäden aus Naturereignissen.
1957: Neue Technologien fordern neue Lösungen. Erst- und Rückversicherer sowie Betreiber und Behörden schaffen den Atompool als Versicherung für einen Atomunfall. Die Poollösung, bei der beteiligte Unternehmen Risiken nach Quoten aufteilten, wird auch für andere komplexe Risiken wie Terrorismusabdeckung oder Haftpflicht für Staudämme angewandt.
1987: Das Jahrhunderthochwasser durchbricht Dämme und überflutet die Reussebene. Ein neues Risikomanangement wird erarbeitet. Dieses setzt nicht nur auf Schutzbauten, sondern schliesst auch planerische und organisatorische Massnahmen ein. Ein Ergebnis dieser Entwicklung ist die Gefährdungskarte Oberflächenabfluss von 2018.
1992: Der Hurrikan Andrew verursacht den bis zu diesem Jahr grössten Versicherungsschaden. Rückversicherer wie Swiss Re suchen alternative Finanz- und Risikotransferlösungen. Als Folge entstehen u.a. Catbonds.
2001: Der Terroranschlag auf das World Trade Center in New York verändert die Denkweise über das potenzielle Schadenausmass, mögliche Korrelationen von verschiedenen Branchen sowie die Bedeutung eines präzisen Vertragswordings. Ein Gericht stuft den Anschlag auf die beiden Türme als ein einzelnes Ereignis ein.
2005: Überschwemmungen in der Schweiz verursachen versicherte Schäden von ca. 2,3 Milliarden Franken. Sie führen zu einer Anpassung der Aufsichtsverordnung AVO für die Elementarschadenversicherung in der Schweiz bezüglich Höchsthaftungslimite, Selbstbehalte und Prämienraten.
2020: Die Pandemie rückt die Grenzen der Versicherbarkeit in den Fokus. Die Versicherungsbranche will ihre gesellschaftliche Verantwortung auch bei Grossrisiken wahrnehmen und setzt sich beim Bund für eine gemeinschaftliche Pandemielösung ein.