«Die Be­dro­hung in der Al­ters­vor­sor­ge ist schwie­ri­ger zu ver­mit­teln»

Interview18. August 2020

Eine Studie der Universität Zürich stellt den Journalistinnen und Journalisten während der Corona-Pandemie ein relativ gutes Zeugnis aus. Wo es noch Luft nach oben gibt – und wie sich die Medienkrise auf die Berichterstattung in der Coronakrise ausgewirkt hat, erläutert Professor Mark Eisenegger, Co-Autor der Studie.

Interview: Daniel Schriber

Herr Eisenegger, welche Note würden Sie dem Schweizer Journalismus während der Corona-Pandemie geben?

Ein knappes «Gut», meine Note wäre eine –5.

Im ersten Halbjahr drehten sich an manchen Tagen bis zu 70 Prozent der Berichterstattung um das Thema. Wie erklären Sie sich diese hohe Quote?

Solche Werte haben wir noch nie gesehen. Gesundheitsthemen sind zwar stets weit vorne in der Berichterstattung anzutreffen, bei Corona spielt jedoch die potenzielle Bedrohung für jedermann und jedefrau eine entscheidende Rolle. Die Tatsache, dass die Krise verschiedenste Bereiche unseres Lebens betrifft, erklärt den hohen Nachrichtenwert zusätzlich.

Mark Eisenegger, Professor am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung

Beurteilt die Berichterstattung der Schweizer Medien während der Coronakrise mit einem knappen «Gut»: Mark Eisenegger, Co-Autor der Studie «Die Qualität der Medienberichterstattung zur Corona-Pandemie».

Besteht in einem solchen Fall nicht die Gefahr, dass sich die Öffentlichkeit ob der Informationsdichte irgendwann abwendet und nicht mehr bereit ist, die durch die Medien vermittelten Inhalte aufzunehmen?

Ja, diese Gefahr besteht durchaus. Studien zeigen, dass es zu Beginn einen «Corona-Bump» gab, bei dem sogar die News-Abstinenzler zu News-Junkies wurden. Diese Überdosis an News führte aber schon bald dazu, dass sich viele wieder abwendeten.

«Statistiken wurden zu wenig eingeordnet: Was sagen sie uns? Wie sind diese zu interpretieren?»

Obwohl Sie insgesamt eine relativ hohe Qualität der Medienberichterstattung feststellten, zeigt Ihre Studie auch Defizite auf. Dies zum Beispiel im Umgang mit Zahlen und Statistiken.

Einige Medien haben im Umgang mit Zahlen und Statistiken einen sehr guten Job gemacht. Viele haben sich jedoch zu stark darauf konzentriert, in kurzen Abständen «nackte» Zahlen zu vermelden. Dabei wurden Statistiken zu wenig eingeordnet: Was sagen sie uns? Wie sind diese zu interpretieren? Nicht selten wurden auch problematische Ländervergleiche angestellt.

Interpretationsbeiträge, die mit substanzieller journalistischer Recherche Hintergründe vermitteln, machen nur rund sechs Prozent aller untersuchten Beiträge aus. Woran liegt das?

Wir haben in den vergangenen Jahren einen Ressourcenverlust und einen damit verbundenen Braindrain im Journalismus gesehen: Tech-Plattformen wie Google oder Facebook graben dem Journalismus das «Werbe-Wasser» ab. Hinzu kommt die tiefe Zahlungsbereitschaft der Nutzerinnen und Nutzer für News. Die Folge ist, dass personelle und finanzielle Ressourcen im Journalismus knapp geworden sind.

Und der Zeitdruck dafür immer grösser?

Genau – das ist eine Folge des Online-Zeitalters, in dem die News-Uhr Tag und Nacht tickt. Diesen Druck legen sich die Medien allerdings auch selber auf: Sie wären gut beraten, mehr zu entschleunigen. Auch deshalb, weil Studien zeigen, dass die potenziellen Leserinnen und Leser noch primär für vertiefte Hintergrundinformationen zu zahlen bereit sind, nicht aber für den News-Ticker. Diesen gibt es überall umsonst.

«Beim Klimawandel und bei der Altersvorsorge handelt es sich um Themen, deren Bedrohung weit schwieriger zu vermitteln ist und die in der ‹fernen› Zukunft liegen. Die Bedrohung aufgrund von Corona ist aktuell und sehr konkret.»

Bei anderen Themen – etwa in der Klimapolitik und in der Altersvorsorge – sind die Fakten ebenso alarmierend. Hierzu gibt es jedoch keine Zahlen, die im Minutentakt aktualisiert werden. Warum?

Derweil die Corona-Thematik zu Spitzenzeiten 70 Prozent der Berichterstattung erreichte, waren es bei der Klimadebatte im Jahr 2019 höchstens rund 10 Prozent. Der Unterschied liegt darin, dass die Bedrohung des Klimawandels für die Menschen abstrakter bleibt. Dasselbe gilt für die Altersvorsorge. Letztlich handelt es sich um Themen, deren Bedrohung weit schwieriger zu vermitteln ist und die in der «fernen» Zukunft liegen. Die Bedrohung aufgrund von Corona ist aktuell und sehr konkret. Es gibt zudem spektakuläre Bilder, denken Sie nur an die Särge in Bergamo.

Wie wichtig erklärende Beiträge wären, zeigt sich auch am Beispiel der Versicherungsbranche: So sorgte zum Beispiel die für die Versicherungsgesellschaften wichtige Unterscheidung zwischen den Begriffen Epidemie und Pandemie für Missverständnisse. Welche Rolle sollten die Medien bei solchen Debatten – und in einer Krisensituation allgemein – einnehmen?

Medien haben in Krisenzeiten eine eminent wichtige Rolle. Sie beeinflussen, wie bedrohlich die Krise erscheint, wie viel Druck auf die Politik ausgeübt wird oder inwieweit die Bevölkerung bereit ist, den Massnahmen Folge zu leisten. Medien sollen Orientierung durch validiertes Wissen schaffen. Zu diesem Zweck wären spezialisierte Ressorts wie «Wissenschaft» wichtig; leider verlieren sie aber zunehmend an Bedeutung.

Wie lautet Ihr Lösungsvorschlag?

Medien sollen eine Frühwarnfunktion wahrnehmen, also rechtzeitig auf aufziehende Bedrohungen hinweisen, ohne jedoch unnötig alarmistisch zu berichten. Zudem sollten sie eine Watch-Dog-Funktion einnehmen: Dazu gehört, den Behörden, der Regierung und den mächtigen Entscheidungsträgern kritisch auf die Finger zu schauen und deren Entscheidungen auf sachlicher Basis zu hinterfragen, ohne zu skandalisieren. Im Falle der Coronakrise, wo ja zu Beginn das Parlament ausgeschaltet war, war es besonders wichtig, dass die Medien ihrer Kontrollaufgabe nachkommen. Das hat insbesondere vor dem Lockdown aber nur teilweise funktioniert.

Was hat konkret nicht funktioniert?

Es gab sicherlich sehr gute Argumente für den Lockdown, in dieser Phase haben die Medien aber zu wenig kritische Fragen gestellt. Diese zu stellen und verschiedene Meinungen und Argumente abzuwägen, ist die Voraussetzung dafür, dass die Gesellschaft kluge Entscheidungen trifft.

Unter den 30 Forschenden, die in den Medien im untersuchten Zeitraum die grösste Resonanz erhielten, befanden sich lediglich drei Ökonomen. Warum ist das so – und warum ist das ein Problem?

Das ist deshalb ein Problem, weil die Coronakrise ja weit über den medizinischen Sektor hinaus Folgeprobleme verursacht, nicht zuletzt in ökonomischer Hinsicht. Die Medien haben sich zu einseitig auf die Virologen, Epidemiologen und Immunologen konzentriert.

Welche Stimmen haben Sie vermisst?

Medien sollen vielfältig über eine Krise berichten. Eben nicht nur über gesundheitliche Risiken, sondern auch über andere Folgen wie die ökonomischen Konsequenzen eines Lockdowns. Es hätte also viele gute Gründe gegeben, den Ökonomen mehr Raum zu geben. Dasselbe gilt für Politikwissenschaftler, die die Folgen von Covid-19 für die Meinungsfreiheit kommentieren, die Juristen, die sich mit den rechtlichen Implikationen von Home-Office befassen – oder die Sozialwissenschaftler, die sich mit den gesellschaftlichen Folgen der Krise beschäftigen.

«Bis zu 80 Prozent der untersuchten Berichterstattung machen einen Bezug zu Experten. Hier zeigt sich, dass der Journalismus viel an eigener Kraft verloren hat, Ereignisse valide einzuordnen.»

Ist die Corona-Pandemie nicht auch ein gutes Beispiel dafür, dass Journalistinnen und Journalisten ohne Expertinnen und Experten kaum in der Lage sind, eigene Gedanken zu entwickeln? Sollen sie das überhaupt?

Die Coronakrise hat in der Tat eine extrem grosse Abhängigkeit der Medien von Experten aufgezeigt. Bis zu 80 Prozent der untersuchten Berichterstattung machen einen Bezug zu Experten. Hier zeigt sich, dass der Journalismus viel an eigener Kraft verloren hat, Ereignisse valide einzuordnen. Unter anderem wurde gerade der Wissenschaftsjournalismus stark weggespart.

Welche Lehren kann und soll der Schweizer Journalismus aus der Corona-Zeit ziehen?

Der Trend zur Entspezialisierung hat sich in der Coronakrise gerächt. Der Journalismus braucht Spezialistinnen und Spezialisten und ausdifferenzierte Ressorts in den Bereichen Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft. Hier sollte wieder mehr investiert werden.

Zur Person

Mark Eisenegger ist Professor am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung (IKMZ) und Leiter des Forschungszentrums für Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) der Universität Zürich. Der Kommunikationswissenschaftler ist Co-Autor der Studie «Die Qualität der Medienberichterstattung zur Corona-Pandemie», die Ende Juli 2020 vom fög herausgegeben wurde.