«Kri­ti­sches Den­ken bleibt un­er­läss­lich»

Kontext

Vom ersten Computer bis zur KI-gestützten Entscheidungsfindung: Die Versicherungsbranche war schon immer ein Vorreiter in Sachen Datenverwaltung.

Schon in den 1960er-Jahren kämpften Versicherungen mit wachsenden Datenmengen und einer immer komplexer werdenden Verwaltung. Und auch damals lautete die Antwort auf die Herausforderungen: Automatisierung. So wurde zu dieser Zeit das Comité d’Action pour la Productivité dans l’Assurance (CAPA) in Frankreich gegründet. Dieser Initiative zur Effizienzsteigerung in der Branche schlossen sich auch Schweizer Versicherer an. CAPA propagierte den Einsatz von Lochkartenrechnern, ersten Computern und Datencentren. Die Tools sollten die Prozesse beschleunigen und die Branche fit für die Zukunft machen. Rund 60 Jahre später hat mit dem Vormarsch der KI die nächste Zeitenwende der Datenverwaltung begonnen.

Noch vor wenigen Jahren sah man das Potenzial von KI primär bei der Effizienzsteigerung. «Heute zählt nicht mehr nur Geschwindigkeit, sondern auch Qualität», erklärt Christian B. Westermann, Group Head of AI bei Zurich. «KI ermöglicht beispielsweise eine präzisere Analyse von Schadenfällen.»

Michael Föhner, Head Data & AI Governance bei Swiss Re, ergänzt: «Es geht nicht um spektakuläre Innovationen, sondern um Optimierung. Es geht um schnellere Risikoanalysen, bessere Inhalte, effizientere Prozesse.» Ein Game-Changer sind für Benjamin Theunissen die Fortschritte in der Dokumentenverarbeitung. Der Head AI & Analytics Hub bei der Helvetia sagt: «Im Gegensatz zu früher werden Daten nicht nur digital dargestellt, sondern auch direkt interpretiert und weiterverarbeitet.»

KI wird heute entlang der gesamten Wertschöpfungskette eingesetzt – von der Schadenerfassung über das Underwriting bis zur Kundenkommunikation. Helvetia lancierte 2023 als erste börsenkotierte Versicherung weltweit einen Chatbot im Stile von ChatGPT für Endkundinnen und Endkunden. «Heute regelt der Chatbot viele Standardanfragen vollautomatisch », so Benjamin Theunissen.

Symbolbild Datenverwaltung

Im Kundenumfeld setzt Zurich hingegen KI bisher primär zur Unterstützung ihrer Mitarbeitenden ein, wie Christian B. Westermann erklärt: «In vielen unserer Marktsegmente zählt der persönliche Kundenkontakt. KI kommt hier hauptsächlich unterstützend zum Einsatz, beispielsweise zum besseren Verständnis unserer Produkte.»

Eine zentrale Frage im Zusammenhang mit KI: Kann sie dem Fachkräftemangel entgegenwirken? Und was bedeutet das für bestehende Arbeitsplätze? Benjamin Theunissen beschreibt die Herausforderung so: «Es gibt jährlich mehr Schäden durch Naturkatastrophen, doch es mangelt an Sachbearbeitern. » KI kann bestehende Fachkräfte entlasten, indem sie einfache Routinefälle automatisiert abwickelt. Doch sie ersetzt nicht den Menschen: «Es gibt Fälle, in denen wir bewusst nicht auf KI setzen – etwa wenn es um emotionale Schadenmeldungen geht.»

Auch Michael Föhner sieht KI-Tools als Ergänzung: «Sie entlastet Mitarbeitende von repetitiven Aufgaben, sodass sie sich auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren können.» Dadurch werde die Arbeit für viele spannender und erfüllen der. Christian B. Westermann betont derweil, dass KI viele Chancen bietet, wenn man sich frühzeitig darauf einstellt: «Die Angst, durch KI ersetzt zu werden, ist verständlich. Doch es wird eher so sein: Du wirst nicht durch KI ersetzt, sondern durch jemanden, der KI nutzt.»

Alle drei Experten sind sich einig: Wir sehen erst die Spitze des Eisbergs. «Wir überschätzen den kurzfristigen Hype und unterschätzen das langfristige Potenzial der Technologie», so Benjamin Theunissen. Sicher ist: Kein Unternehmen kann sich der Veränderung entziehen. «Entscheidend ist, sich nicht nur auf das zukünftige Potenzial zu fokussieren, sondern die bestehenden Tools systematisch und besser anzuwenden», resümiert Christian B. Westermann. Und Michael Föhner ist überzeugt, dass die Kombination aus KI und menschlicher Expertise entscheidend bleibt: «Die Versicherungswelt wird nicht rein KI-gesteuert sein, sondern eine Symbiose aus Mensch und Maschine. Kritisches Denken bleibt unerlässlich.