Mit Si­cher­heit we­ni­ger Frei­heit

NewsArchive22. November 2017

Referat von Ludwig Hasler, Philosoph und Publizist, anlässlich der Generalversammlung am 23. Juni 2011 in Zürich.

Referat von Ludwig Halser als Text

Kennen Sie das Drama der Grizzlybären im einst Wilden Westen? Früher (siehe Karl May) überfielen sie Dörfer, zerfetzten Männer wie Pferde. Dann schoss man sie ab, bis nur eine Handvoll überlebte. 1975 verbot man die Grizzly-Jagd. Seither vermehren sie sich friedlich – und werden faul und fett, liegen in den Feldern herum, stopfen sich mit Hafer voll. Adipöse Warmduscherbären. Therapiefälle. Zu sicher. Allzu sicher macht total unsicher.

Auch Menschen? Sogar Schweizer? Verfetten wir? Ein Volk von Therapiefällen? Hinter jedem Gartenhag ein Care Team. Zwölf Therapeuten auf einen Ingenieur. Nimmt unsere Geschichte eine grizzlymässige Kurve? Am Wendepunkt aber standen Sie, stand die Idee der Versicherung.

Die ging so. Über Jahrtausende war es verdammt unattraktiv, ein Opfer zu sein. Wer unter die Räuber fiel, wen der Blitz traf, wem das Haus abbrannte, wer vom Aussatz befallen, vom Fürst enteignet wurde, dem ging es dreckig. Gegen das Schicksal war kein Kraut gewachsen, das Opfer ein Pechvogel. Einzig die Aussicht auf Himmelsfreuden entschädigte fürs irdische Debakel. Diese Aussicht aber verblasste im Zuge der Neuzeit, das Schicksal hatte keine Adresse mehr, die himmlische Ausgleichskasse büsste ihren Kredit ein. Sie brauchte unbedingt einen weltlichen Ersatz: das war die Erfindung der Versicherung. Mit ihr kann man zwar nicht dem Unglück entkommen, aber doch seinen ruinösen Folgen, weil andere für den Schaden haftbar gemacht werden. Inzwischen versichert man sich gegen alles, Feuer und Hagel, Haarausfall, Kinderlosigkeit und untergejubelte Kinder. Der Wunsch nach Sicherheit greift so weit aus, dass er auch Risiken einschliesst, die keine sind, sondern die Schatten, die das irdische Leben wirft, Alter, Krankheit, Leiden, Tod, Demenz.

Kippt hier die Idee? Die Versicherung wollte den Menschen stärken, mündig machen, unabhängig von der Jenseits-Assekuranz – nach dem Motto: die irdische Risiko-Assekuranz schafft die Lizenz zu riskanterem Leben. Doch die Mentalität – sichern, absichern, versichern – greift um sich. Bis auf den Fussballplatz. Klammern wir die U 21 mal aus. Bisher war die Schweizer Nati Weltmeister im Ballhalten, im Dichtmachen. Alles auf Nummer sicher. Vorwärtsdrang bescheiden. Risikofreude minim. Rennen konnten sie stets. EM 08: Spiel gegen Tschechei. Die Schweizer rannten 124 km, die Tschechen lausige 113 – dafür hatten sie zwischendurch Zeit, ein paar Tore zu schiessen. Tore schiessen statt rennen. Was braucht es dazu? Vor allem die Frechheit, den Ball in den leeren Raum zu spielen – statt immer da hin, wo grad einer steht. Da, wo jetzt noch grad keiner steht, wo der Platz leer ist, da könnte Zukunft sein. Die Überlistung des Gegners, des Konkurrenten, der eigenen Trägheit. Das Tor, der Sieg. Vielleicht auch nicht... Wir können es nicht wissen, nicht versichern. Wir müssen es wagen. Ohne eine Portion Zufall keine Zukunft.

Die meisten aber flüchten vor dem Zufall in die Sicherheit. Kindersitze für 12-Jährige (dafür kriegen sie mit 14 Präservative). Tanten obligatorisch zu Babysitterinnen auszubilden. Alle 500 Meter ein Defibrillator... Sind das unsere Restsorgen? Aus lauter Angst, man könnte am Leben gar noch sterben? Siehe Rauchverbote. Offensichtlich darf man alles sein, doof, langweilig, fantasielos, unproduktiv – nur nicht rauchen. Rauchen ist auch doof. Komisch nur: Alle, die uns im letzten Jahrhundert voranbrachten, pafften wie Kamine. Sigmund Freud rauchte, Albert Einstein, Bundesrat Wahlen, Auguste Piccard, Picasso unentwegt, Churchill erst recht, Helmut Schmidt weiterhin. Überdies tranken sie ein Vielfaches dessen, was das Bundesamt für Gesundheit für zulässig hält. Von Body Mass Index null Ahnung. Dafür machten sie vorwärts, getrieben von Erfindergeist, Tatendrang – und wurden kurioserweise steinalt. Getrieben! Triebtäter. Innovation kriegt man nicht mit Verboten. Innovative sind hungrig, verschwenderisch, sie haben stets noch was anderes im Kopf als den eigenen Cholesterinspiegel. Siehe Nicolas Hayek.

Das Sicherheitsdenken funktioniert nicht einmal in sich selbst. Auf Skipisten Helm auf, obligatorisch. Bringt das mehr Sicherheit? Mehr Sicherheitsillusion, mehr Draufgängertum, mehr Selbstüberschätzung. Helm auf – und ich fühle mich als Kämpfer, als Soldat – und brettere umso rücksichtsloser zu Tal. Immer mehr Sicherheit, immer weniger Freiheit. Die Summe der Unsicherheit aber bleibt konstant. Logisch. Der Mensch ist kein vom Himmel gefallener Engel, eher ein Spätausläufer des Affen, die Evolutionsleiter hinauf stolpernd. Man kann ihm nun, beim Stolpern, alle Hindernisse aus dem Weg räumen, ihm jede Menge Sicherheit einbauen. Dann stolpert er weniger, mag sein, er büsst aber auch die Kraft ein, Hindernisse zu überspringen. Die wirklichen Katastrophen kommen sowieso unerwartet. Hirntumor, Erdbeben, Finanzkrise, Zimmermädchen im Hotel, Ehec-Gurke... Man kann sich natürlich vorsehen, wie Karl Valentin, der mal sagte, er sei in einen Bergwerkstollen umgezogen, das sei zwar unwirtlich, dafür «sicher vor Meteoriteneinschlägen». Auf den Einwand, Meteoriten seien doch extrem selten, entgegnete er: «Schon, aber bei mir geht Sicherheit über Seltenheit.» Ein Schelm, wer da nicht an Schweinegrippe denkt. Impfalarm. Händewaschzwang. Die Schweiz, eine Wachanlage. Einst für Geld, heute für Hände. Wozu keimfreie Hände? Ruinieren bloss unser Immunsystem. Typisch für den Sicherheitswahn: Wer jede Unsicherheit flieht, läuft ihr direkt in die Arme. Nach dem 11. September 2001 nahmen ungezählte Amerikaner aus Angst vor Terror das Auto statt das Flugzeug. Resultat: Übers Jahr starben gegen 1500 Menschen mehr als sonst auf den Strassen.

Auf Nummer sicher gehen kann tödlich enden. Lähmen in jedem Fall. Dazu die hübsche Episode: Albert Einstein beendet seine Vorlesung an der Uni Prag, will gehen. «Herr Professor, nehmen Sie Ihren Schirm, es regnet!» Einstein betrachtet nachdenklich seinen Schirm in der Ecke und antwortet dem Studenten: «Wissen Sie, junger Freund, ich vergesse oft meinen Regenschirm, darum habe ich zwei, einen zuhause, einen hier. Natürlich könnte ich den jetzt mitnehmen, da es tatsächlich regnet. Aber dann hätte ich am Ende zwei Schirme zuhause und keinen hier.» Sprach es und ging hinaus in den strömenden Regen.

Einstein, der Geistesriese, tropfnass im Regen, aus Furcht, beim nächsten Regen ohne Schirm dazustehen. Charmanter lässt sich die Logik des Sicherheitsfurors nicht illustrieren: Je wasserdichter wir planen, desto gewisser stehen wir im Regen. Je lückenloser die Prävention, umso sicherer verpassen wir das Leben.

Wobei Einstein klar zur Freiheitsfraktion zählt. Latschte halt gern durch den Regen. Verachtete Schirme. Sicherheitsschirme, Fallschirme, goldene wie andere: «Ohne Ordnung kann nichts bestehen, ohne Chaos nichts entstehen.» Ohne Sicherheit können wir nicht leben, ohne Unsicherheit verkümmert das Leben. Wie in der Natur, von der Konrad Lorenz salopp sagte: Natur arbeitet auf Pfusch. Verlässt sich nie auf das, was sie auf sicher hat, probiert pausenlos neue Formen, neue Raffinessen, mit dem Risiko, dass nichts draus wird, aber im Bewusstsein, dass, was heute gesichert scheint, übermorgen schon morbid sein kann. Und wir Zweibeiner glauben, uns nur noch absichern zu können? Zu dumm. Keiner von uns hat einen Schimmer, wie die Welt in fünfzehn Jahren aussieht. Findet aber demnächst statt, also müssen wir uns dringend fit machen – fürs Unbekannte. Also pfuschen, experimentieren, innovieren, riskieren – statt nur Sicherheitsnetze knüpfen. Übersetzen Sie «Pfusch» ungeniert mit «Freiheit». Hauptsache, Sie wissen: Allein dieser Pfusch, nur Freiheit eröffnet Zukunft. Sicherheit sichert bestenfalls den Bestand. Der ist in einer Minute schon passé.

Die Mehrheit aber will den Schirm, nicht die Freiheit. Will den Staat, nicht den Pfusch. Den Sicherheits-, nicht den Freiheitsstaat. Nun ist Sicherheit der harte Kern des modernen Staates – seit seiner Geburt im späten 17. Jahrhundert, als die Menschen, erschöpft vom Gemetzel der Glaubenskriege, ihre Waffen dem Staat abgaben, damit der sie voreinander verschone. Heute verschont der Staat die Bürger vor sich selbst: vor Raucherhusten, Cannabis-Dusel, sonntäglichen Konsumräuschen, erotischen Avancen am Arbeitsplatz, vor riskanten Lustbarkeiten jeder Art, pointiert gesagt: er verschont den Bürger vor seiner Freiheit und Verantwortung. Der Staat wird zum Exekutivorgan eines kollektiven Wunsches nach präventiver Abschaffung des Schicksals.

So bringt der Staat die Bürger dreifach in Sicherheit: vor bösen Nachbarn, vor dem Bösen im eigenen Triebhaushalt, vor bösen Schicksals-Überraschungen. Ein gottähnliches Pensum. Kann nur schief gehen. Die Leute nämlich wollen es sicher – und lustig. Entblössen sich lustvoll auf Facebook – und rufen humorlos nach dem totalen Datenschutz. Wollen den AKW-Ausstieg subito – aber keiner will Elektroingenieur studieren. Solche Widersprüche löst kein Staat auf. Trotzdem: Suchten Bürger einst Schutz vor dem Staat, fordern sie heute Schutz durch den Staat. Der lässt sich nicht zweimal bitten. Aus der Sehnsucht nach Sicherheit bezieht er seine Legitimität.

Diese Sehnsucht kostet. Nicht nur Geld. Sicherheit kostet Freiheit. Darüber höre ich selten streiten. Kein Wunder: Das Ideal der Freiheit ist weit weniger populär, als die politische Rhetorik es suggeriert. Der Wunsch, unbehelligt zu bleiben, überwiegt, narkotisiert den Freiheitsdrang. Freiheit ist nichts für Spiesser. Sie ist kein Spass, mehr ein Kampf. Für Sicherheitsfreaks ein Dauerrisiko. Freiheit erzeugt Unsicherheit. Freiheit zerstört Sicherheiten, schafft Konflikte, stachelt Rivalitäten an. Eine Freiheit, die nicht missbraucht werden kann, ist keine.

Irgendwie mag man das heute nicht. Wozu Freiheit, denkt man, wenn das Leben ohne sie sicherer ist? Ja, wozu? Die Antwort gab schon John Stuart Mill: «Ein Staat, der die Bürger zu Zwergen macht, und sei es zu einem guten Zweck, wird eines Tages feststellen, dass sich mit kleinen Menschen keine grossen Dinge erreichen lassen.» Die Gretchenfrage: Wollen wir – als CH-Community – noch «grosse Dinge» erreichen? Falls, dann muss Schluss sein mit der Dominanz des Sicherheitsdenkens. Schluss mit der Idealisierung des mickrigen Selbstschon-Typs. Grosse Dinge brauchen Leidenschaftliche, Passionierte, Leute, die sich an eine Idee verschwenden. Leute, denen Freiheit mehr bedeutet als Sicherheit.

Lästige Schlussfrage: Können wir auf «grosse Dinge» verzichten? Sicher. Falls wir uns irgendwo hinter Portugal anstellen, auf unseren Wohlstand verzichten wollen. Nichts riskieren ist das Höchstrisiko. Wir können auf Wellness machen, Schonung, Prävention. Anderswo aber sind sie leidenschaftlich schonungslos unterwegs – und hängen uns ab. Koreaner, Brasilianer, Inder, Chinesen.

Wir verhalten uns derzeit wie die Steinböcke. Die verlassen, wenn kein Wolf mehr unterwegs ist, das unwirtlich felsige Terrain, weiden auf satten Wiesen, vernachlässigen ihr Klettertraining, führen sich auf wie dumme liebliche Rehe. Kommt dann der Wolf doch wieder mal vorbei, werden sie hilflose Opfer, als Rehe sind sie zu langsam. Ergo. Unsicherheit gehört zum Überlebenstraining.

CH: voralpine Knörze. 19. Jahrhundert: Auswanderungsland. Inzwischen reich gewordene Bergler. Labil. Riskant wie Steinböcke. Klettertraining nicht vernachlässigen! Mit Sicherheit weniger Freiheit! Und: Mit weniger Freiheit langfristig entschieden mehr Unsicherheit.