Emer­ging Risks – Rol­le der Haft­pflicht­ver­si­che­rer

15. Juni 2022

Mit dem Thema «Emerging Risks», das als solches vor etwa 15 Jahren noch wenig beachtet wurde, beschäftigen sich heute vor allem bei den führenden Rückversicherern hoch qualifizierte Spezialisten. Ihr Ziel ist es, potentielle zukünftige Risiken zu erfassen.

Der Umgang mit Emerging Risks stellt für die Underwriter insofern eine Herausforderung dar, als angesichts des sich rasch ändernden rechtlichen, gesellschaftlichen und technologischen Umfelds oft hellseherische Fähigkeiten von Nöten wären, um negative Entwicklungen frühzeitig erkennen zu können. Es bedarf deshalb einer zukunftsorientierten Bewältigungsstrategie, um auf die durch Emerging Risks geschaffene, spezifische Bedrohungslage rechtzeitig und angemessen reagieren zu können. Ein solches Konzept sollte folgende Elemente beinhalten:

  • Früherkennung (und Erfassung) von Emerging Risks
  • Analyse von Emerging Risks
  • Umsetzung von (Underwriting-)Massnahmen

Mit diesem Prozess sollen die Voraussetzungen geschaffen werden, im Sinne eines Frühwarn- oder Radarsystems, Veränderungen der Risikolandschaft aufzuspüren und geeignete Lösungen zu entwickeln. Um nützlich zu sein, müssen Frühwarnsysteme schwache, unverständliche und vom Laien nicht zuverlässig interpretierbare Signale in kommunizierbare Entscheidungsgrundlagen oder gar Handlungsanweisungen umwandeln.

Früherkennung von Emerging Risks durch Versicherer

In diesem ersten Schritt geht es darum, möglichst frühzeitig Signale zu erkennen, welche auf neuartige Gefahrenpotenziale hinweisen. Ähnlich einem 360°-Radar soll das Haftpflichtumfeld abgetastet werden, um dabei Veränderungen aufzuspüren, welche die Risikolandschaft negativ beeinflussen könnten. Im Vordergrund der entsprechenden Beobachtungen stehen die technischen, wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und rechtlichen Entwicklungen, mithin diejenigen Quellen, die geeignet sind, als Emerging Risk in Erscheinung zu treten.

Als Informationsquellen kommen Beiträge in Presse und Fachzeitschriften, Nachforschungen im Internet, Seminarteilnahmen sowie der Informationsaustausch mit Kollegen, Kunden und Fachleuten in Betracht. Die Kunst der Früherkennung besteht somit nicht darin, gleich einem Hellseher, zukünftige Entwicklungen richtig zu erraten, sondern bereits stattgefundene Veränderungen und deren Hintergründe mit den zur Verfügung stehenden Mitteln so früh wie möglich zu erkennen.

Analyse von Emerging Risks durch Versicherer

In einem zweiten Schritt sind alsdann identifizierte Emerging Risks entsprechend ihrer Relevanz für den betreffenden Versicherer mittels einer Risiko-Codierung (z. B. Farbskala «gelb-orange-rot» im Sinne des Verkehrsampelprinzips) nach folgenden Gesichtspunkten zu klassifizieren:

  • Quelle der festgestellten Emerging Risks (z. B. neue Technologie), unter Einbezug möglicher Wechselwirkungen mit anderen Einflussfaktoren;
  • Wahrscheinlichkeit der tatsächlichen Verwirklichung des Risikos;
  • Betroffene Schadenarten (Personenschäden, Sachschäden, reine Vermögensschäden, Umweltschäden);
  • Mögliche geografische Ausbreitung;
  • Gefährdungsgrad im Einzelfall (kleinere, mittlere, grosse Risiken, Katastrophenrisiken);
  • Mögliches Serienschadenpotenzial;
  • Worst-Case-Szenario zum möglichen Schadenausmass im jeweiligen Bestand des betreffenden Versicherers, unter Berücksichtigung eines allfälligen Kumulschadenpotenzials;
  • Art der öffentlichen Wahrnehmung (z. B. Medien, politische Diskussionen, Konsumentenschutzorganisationen);
  • Haftpflichtrechtliche Relevanz (z. B. Nachweis der Kausalität zwischen Risikoquelle und Schadenfolgen sowie die mögliche Zuordnung zu einem bestimmten, tatsächlichen Verursacher);
  • Mögliche behördliche Aktivitäten (z. B. Verbote, Sicherheitsvorschriften, Haftungsverschärfungen, Versicherungsobligatorien).

Die auf diese Weise durchgeführte Klassifizierung von Emerging Risks bildet die Grundlage, um die Art und die Dringlichkeit der zu ergreifenden Massnahmen festlegen zu können.

Massnahmen der Versicherer bei Emerging Risks

Beim versicherungstechnischen Umgang mit Emerging Risks stellt sich für den Haftpflichtversicherer zunächst einmal die grundsätzliche Frage der Versicherbarkeit solcher Risiken. Aus den oben beschriebenen Merkmalen von Emerging Risks ergibt sich, dass diese mit den allgemein anerkannten und grundlegenden Voraussetzungen für die Versicherbarkeit von Gefahren nicht ohne Weiteres zu vereinbaren sind. Andererseits leben die Versicherer davon, dass sie Risiken tragen. Insofern soll die Aufgabe des Haftpflichtversicherers nicht darin bestehen, sich Engagements zu entziehen, sondern solche Engagements in Übereinstimmung mit den Bedürfnissen der Unternehmer in möglichst umfassender, kontrollierter Weise einzugehen. Für den Haftpflichtversicherer gilt es somit, auch in Bezug auf Emerging Risks eine vernünftige Balance zu finden zwischen der Verweigerung der Risikoübernahme (worüber die Industrie häufig klagt) und einer zu riskanten Risikozeichnung (worüber Controller und Analysten klagen). Dafür braucht es aber ein risikobezogenes, fundiertes Sensorium, um den potentiell einschneidenden Negativfolgen von Emerging Risks zu begegnen.

Zur Absicherung der eigenen negativen Auswirkungen potentieller Schädigungen durch Emerging Risks stehen dem Haftpflichtversicherer verschiedenste Mittel zur Verfügung, wie z. B.:

  • Mittels Obliegenheiten dahingehend einwirken, dass sämtliche technischen Möglichkeiten zur Begrenzung des Risikos ausgeschöpft und insbesondere die einschlägigen Empfehlungen und allenfalls geltende Grenzwerte eingehalten werden;
  • Summenmässige Begrenzung durch die Vereinbarung von Sublimiten für bestimmte Risiken;
  • Im Hinblick auf das Potenzial einer Vielzahl betroffener Personen ist eine griffige Serienschadenklausel vorzusehen. Dabei ist zu beachten, dass die angestrebte versicherungstechnische Zusammenführung mehrerer Schäden aus derselben Ursache zu einem einzigen Ereignis nur dann wirksam ist, wenn das betreffende Emerging Risk als dieselbe Ursache für alle daraus entstehenden Schadenereignisse angesehen wird;
  • Im Hinblick auf die in einzelnen Ländern unsichere Rechtsanwendung (z. B. USA / Kanada) kann sich eine Beschränkung des örtlichen Geltungsbereichs aufdrängen;
  • Da wir es bei Emerging Risks vielfach mit Langzeitrisiken zu tun haben, ist es erforderlich, eine unzweideutige zeitliche Zuordnung der zu übernehmenden Versicherungsfälle zu einer bestimmten Versicherungsperiode und damit zu einem bestimmten Versicherungsvertrag vorzusehen. In der Regel dürfte sich die Umstellung des zeitlichen Geltungsbereichs auf das Anspruchserhebungsprinzip (Claims made-Prinzip) aufdrängen;
  • Vereinbarung einer Einmalgarantie pro Versicherungsjahr;
  • Vereinbarung höherer oder speziell ausgestalteter Selbstbehalte;
  • Deckungsausschluss des betreffenden Emerging Risks – oder von Teilen davon.

Wichtig ist auch eine klare Kommunikation der Zeichnungspolitik und die Herausgabe spezieller Underwriting-Guidelines für den versicherungstechnischen Umgang mit Emerging Risks, sowie eine möglichst frühzeitige Aufnahme des Risikodialogs, um das Bewusstsein bei betroffenen Unternehmen, Behörden und anderen involvierten Institutionen zu schaffen.

Aus einem professionellen Umgang mit Emerging Risks, welcher auf einem funktionsfähigen Frühwarnsystem auf-baut, können sich für die Versicherungswirtschaft durchaus auch Chancen ergeben. Zu denken ist etwa an die Entwicklung innovativer Versicherungsprodukte und Dienstleistungen, wodurch neue Geschäftsfelder generiert werden können.