Fach­ta­gung Per­so­nen­scha­den 2022: Tour d’Ho­ri­zon durch ein brei­tes The­men­spek­trum

Event28. September 2022

Nach vier Jahren Pause konnte die Fachtagung Personenschaden Ende August endlich wieder stattfinden. Rund 70 Teilnehmende aus der Versicherungsbranche reisten für diese zweitägige Weiterbildung, die notabene auf Französisch synchronübersetzt wurde, nach Luzern und wurden mit exzellenten Referaten belohnt.

Ein bunter Strauss von Themen wurde von hochkarätigen Referierenden behandelt. Die beiden Gastgeber Manuel Nyffenegger, Präsident der Arbeitsgruppe Personenschaden und Reintegration des SVV und Patrizio Pelliccia, Fachverantwortlicher Schaden und Versicherungsmedizin beim SVV führten souverän durch die fachlich anspruchsvolle Tagung.

Rechtsentwicklungen im Haftpflichtbereich

Inhaltlich eröffneten die beiden Senior Legal Counsels Barbara Huber Grämiger und Sarah Riesch der Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG den ersten Kurstag. Sie präsentierten spannende Urteile im Bereich der Personenversicherung und lieferten auch gleich eine nützliche Zusammenstellung weiterer relevanter Entscheide mit. 

Veit Wendenburg, Leiter Haftpflicht/Sach bei der Vaudoise, brachte dem Publikum die Regulierung von Arzt- und Spitalhaftpflichtfällen näher und schälte Aspekte heraus, die es bei solchen Fällen im Haftpflichtrecht speziell zu beachten gilt. Als Praktiker beschäftigt ihn speziell das Spannungsfeld zwischen geschädigten Patienten, die hohe Hürden überwinden müssen, um allfällige Schadenersatzansprüche durchzusetzen, und versicherungsnehmenden Ärzten, die eine Verteidigung durch ihre Haftpflichtversicherung erwarten.

Fachtagung Personenschaden 2022: Jerome Cosandey und Patrizio Pelliccia

Invalidität ist nicht nur Sache der Sozialversicherungen: Jérôme Cosandey, Directeur romand von Avenir Suisse

Jérôme Cosandey, Directeur romand von Avenir Suisse, präsentierte die Studie «Eingliedern statt Ausschliessen» von Avenir Suisse und schlug vor, dass sich die involvierten Sozialversicherungen sowie das RAV zugunsten der anspruchstellenden Personen dahingehend einigen, wer die Rolle des Ansprechpartners und die nachgelagerte Koordination übernimmt. Dies würde anspruchstellenden Personen administrativen Aufwand ersparen.

Neues Datenschutzgesetz ab September 2023

Die Datenschutzspezialistin Ursula Uttinger ging auf das revidierte Datenschutzgesetz (DSG) ein, welches am 1. September 2023 in Kraft treten wird. Für alle Unternehmen, die ihre Hausaufgaben in Sachen Datenschutz bis anhin erledigt haben, konnte sie Entwarnung geben: Für sie wird es keinen grossen Handlungsbedarf geben. Im Gegensatz zum europäischen Umland bleibt die Datenverarbeitung in der Schweiz grundsätzlich erlaubt (mit Verbotsvorbehalten) und wird nicht grundsätzlich verboten (mit Rechtfertigungsmöglichkeiten).

Fachtagung Personenschaden 2022: Ursula Uttinger

Datenschutz ist für Versicherer bereits heute eine Selbstverständlichkeit: Datenschutzspezialistin Ursula Uttinger

Der erste Kurstag konnte bei bestem Wetter und einem Apéro direkt am See mit anschliessendem Barbecue abgerundet werden. Die Kursteilnehmenden haben dieses Rahmenprogramm sehr geschätzt und die Gelegenheit zum sozialen Austausch und zum wertvollen (und während der Pandemie zu kurz gekommenen) Netzwerken genutzt.

Einblicke in die ICD-11 und Post-Covid-19

Den zweiten Kurstag eröffnete Jörg Jeger, ehemaliger Chefarzt MEDAS. Er demonstrierte dem Publikum die IT-Applikation der ICD-11 (ICD: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems), welche von der WHO am 1. Januar 2022 lanciert wurde. Da die Applikation bis dato aber noch nicht auf Deutsch existiert, ist in der Schweiz nach wie vor das «Vorgängermodell» – der ICD-10, ausschliesslich in Buchform – in Gebrauch. Jedes Land kann selber entscheiden, wann und in welchen Teilbereichen es den neuen Klassifizierungscode einführen will.

Fachtagung Personenschaden 2022: Achim Regenauer

Ein «Tsunami» von Post-Covid-19-Fällen dürfte erfreulicherweise ausbleiben: Achim Regenauer, Chief Medical Officer der Partner Re 

Mit Spannung erwartet wurden Achim Regenauers Ausführungen zu Post-Covid-19-Erkrankungen, welche sowohl die Versicherungswirtschaft als auch die Medizin vor grosse Herausforderungen stellen, da die Symptomenkomplexe schwer fassbar sind. Der Chief Medical Officer der Partner Re präsentierte und interpretierte mehrere Studien und zeigte den aktuellen Stand der Forschung auf. Wenn man darauf abgestützt eine Prognose wagen möchte, dürfte ein «Tsunami» von Post-Covid-19-Fällen erfreulicherweise ausbleiben.

Beurteilung von psychischen Beeinträchtigungen

Christoph Müller-Pfeiffer, leitender Arzt in der Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik, im Universitätsspital Zürich, präsentierte FIRA, die funktionelle Beeinträchtigungs- und Anforderungsanalyse (Functional Impairment and Requirement Analysis) für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit von Personen mit psychischen Beeinträchtigungen. Durch die FIRA wird der unverhältnismässig grosse Schritt von der ärztlichen Beurteilung der gesundheitlichen Beeinträchtigung hin zur Arbeitsfähigkeitsbeurteilung in vier umschriebene, nachvollziehbare und auf entsprechender Expertise basierende kleinere Schritte aufgeteilt: 

1. Arbeitspsychologische Untersuchung der Leistungsänderung im Alltag 
2. Medizinische Untersuchung 
3. Arbeitspsychologische Einschätzung der Leitungsanforderungen im Beruf 
4. Statistische Schätzung der Leistungsbeeinträchtigung im Beruf 

Thematisch ähnlich ist das Beurteilungsverfahren REAcT (Risikoeinschätzung für Einschränkungen der beruflichen Aktivität und Teilhabe), vorgestellt durch Michael Liebrenz, Leiter Forensisch-Psychiatrischer Dienst (FPD) der Universität Bern. REAcT ist ein Fremdbeurteilungsverfahren (Structured Professional Judgement SPJ), welches das Risiko für die Einschränkungen der beruflichen Aktivität und Teilhabe von Betroffenen in Folge einer Gesundheitsstörung (Krankheit oder Unfall) erfassen soll. Ziel des Instruments ist eine Abschätzung der Wahrscheinlichkeit, mit der eine Versuchsperson unter bestimmten Voraussetzungen in einem bestimmten Zeitraum wieder arbeitsfähig wird oder aber arbeitsunfähig bleibt. REAcT soll es erleichtern, weitere Interventionsschritte in Bezug auf die berufliche Wiedereingliederung zu planen.

Fachtagung Personenschaden 2022: Michael Liebrenz

REAcT soll es erleichtern, weitere Interventionsschritte in Bezug auf die berufliche Wiedereingliederung zu planen: Michael Liebrenz, Leiter Forensisch-Psychiatrischer Dienst (FPD) der Universität Bern

Auch Ralph Mager, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Neurologie, widmete sich dem Thema der Beurteilung von Personen mit psychischen Beeinträchtigungen, indem er den Nutzen einer versicherungsmedizinischen Standarddiagnostik (VSD) erläuterte. Im Grunde genommen haben alle Beurteilungs-Instrumente das Problem einer geringen Reliabilität. Deshalb wurde in der vorgestellten VSD-Studie erstmals parallel zur klassisch-explorativen Begutachtung auch eine internet-basierte psychiatrische Standarddiagnostik als eine zusätzliche Informationsquelle genutzt, um die Bereiche Kognition, Leistungsfähigkeit, Beschwerdenvalidität, Persönlichkeit, biographischer Längsschnitt und Symptomlast systematisch darzustellen.

Der Einbezug der VSD in die Arbeitsunfähigkeitsbeurteilung eröffnet deshalb neue Wege für die versicherungsmedizinische Forschung. Im Einzelfall ermöglicht dies eine Untermauerung von Einschätzungen der verbliebenen Arbeitsfähigkeit und psychiatrischen Bewertungen durch objektive, standardisierte Daten. 

Gesundheitspolitik und Tarifwesen

Im letzten Themenblock der Veranstaltung stellte Andreas Christen die Medizinaltarifkommission (MTK) und die Zentralstelle für Medizinaltarife (ZMT), dessen Direktor er ist, vor. Er referierte zur Gesundheitspolitik im Zusammenhang mit dem Tarifwesen. Gemeinsame Lösungen zu verschiedenen Herausforderungen im Gesundheitswesen seien blockiert, weil Versicherer, Ärzte und Kliniken zu stark ihre Partikularinteressen vertreten würden. Vor allem, wenn es um tarifarische Fragen gehe. Dadurch sei ein vernünftiger und sachorientierter Kompromiss bei den Verhandlungen vorderhand nicht möglich.1 Diese Ausgangslage könnte dazu führen, dass am Ende der Staat eingreifen müsste, was nicht im Sinne der Marktteilnehmenden wäre.  

Fachtagung Personenschaden 2022: Andreas Christen

Blockade in der Gesundheitspolitik: Andreas Christen, Direktor der Medizinaltarifkommission MTK

Das finale Referat war dem Thema «ambulant vor stationär» gewidmet. Melanie Zemp, Bereichsleiterin stationäre Tarife ZMT, legte die Prämisse dieses Grundsatzes dar und machte darauf aufmerksam, dass die Finanzierung aus einer Hand im UVG tendenziell zu Kostenersparnissen führt. Die Verlagerungen vom stationären zum ambulanten Bereich bewirken zudem für KVG-versicherte Fälle, dass die Kosten bei den Kantonen sinken (duale Spitalfinanzierung nur bei stationären Behandlungen) und bei den Krankenversicherungen stabil bleiben. Der zweite Teil des Vortrags thematisierte die individuellen Vertragsbeziehungen (selektive Kontrahierung). Die UVG-Versicherer stellen mit den Tarif- und Leistungsverträgen der Medizinaltarifkommission MTK die Versorgung ihrer grundversicherten Patientinnen und Patienten sicher. Im Gegensatz zum KVG existiert im UVG keine gesetzliche Verpflichtung, mit allen zugelassenen stationären Leistungserbringern einen Vertrag abzuschliessen. Die MTK setzt diese Möglichkeit zur selektiven Kontrahierung im stationären Bereich um. 

Fachtagung Personenschaden 2022: Melanie Zemp

Verlagerung von stationär zu ambulant kann Kosten im UVG-Bereich senken: Melanie Zemp, Bereichsleiterin stationäre Tarife ZMT

Nebst den zahlreichen praxisnahen Einblicken kam auch der fachliche und persönliche Austausch mit Kolleginnen und Kollegen aus der Assekuranz nicht zu kurz, weshalb die Tagung nach vier Jahren Pause ganz besonders geschätzt wurde. Die nächste Fachtagung Personenschaden findet voraussichtlich im Jahr 2024 statt.

1 In den vergangenen Wochen konnten laut santésuisse-Präsident Martin Landolt Fortschritte in den Verhandlungen erzielt werden. So wollen die involvierten Verbände von Spitälern, Ärzten und Krankenkassen im November 2022 eine gemeinsame Aktiengesellschaft für ein Tarifbüro gründen.