In­di­vi­dua­lis­mus und So­li­da­ri­tät: Mut für ei­ne neue Al­ters­vor­sor­ge

NewsArchive22. November 2017

Urs Berger
Präsident des Schweizerischen Versicherungsverbandes
Generalversammlung, 21. Juni 2012
Hotel Bellevue Palace, Bern

Es gilt das gesprochene Wort.

In meiner Jugend waren Brieffreunde unser Kontakt in die weite Welt. Heute hat man weltweit Facebook-Freunde. Wir skypen, simsen und mailen statt Briefe zu schreiben, und dies alles schneller und günstiger. In den letzten Jahren hat sich aber nicht nur das kommunikative Verhalten unserer Gesellschaft stark verändert – Renommierte Gesellschaftswissenschaftler zeigen, dass die Digitalisierung zu den grössten gesellschaftlichen Veränderungen seit der Erfindung des Buchdrucks von Johannes Gutenberg Mitte des 15. Jahrhunderts führt.

Die technologischen Veränderungen, vor allem mit dem Smartphone sind Entwicklungen des sogenannten «Empowerments» jedes Einzelnen! Frei von örtlicher, zeitlicher Gebundenheit hat heute jeder mehr Informationen buchstäblich in der Hand, als der Präsident der USA vor 15 Jahren. Ja selbst radioaktive Strahlen werden per I-phone gemessen, der Einzelne wird immer unabhängiger von «offizieller Information». Angesichts dessen, dass Information gleich Macht ist, bedeutet dies auch: Die Machtverhältnisse verändern sich. John Lennons Beatles-Song «Power to the people» lässt grüssen- und die Piraten, die gerade das politische Establishment bei unseren deutschen Nachbarn aufscheuchen, ebenso.

Diese Entwicklung unterstützt auch den Individualisierungstrend. Individuelle Bedürfnisse werden heute so stark gewichtet, wie nie zuvor. Manche reden von einer «glückssüchtigen» Gesellschaft. Und in der Schweiz hat man nach dem letzten Abstimmungswochenende geradezu den Eindruck, die freie Arztwahl gehöre eindeutig zum Glück von uns Schweizerinnen und Schweizern dazu.

Wobei die Furcht vor der Einschränkung dieser Freiheit dabei wohl Pate gestanden ist, denn die gewonnenen individuellen Freiheiten sind zentraler Bestandteil der Individualisierung. Freiheiten sind auch «Be-freiungen». Zum Beispiel die noch gar nicht solange gelebte Freiheit, seinen Beruf und Heiratspartner zu wählen. Auch wir Versicherungen folgen und gestalten diese Entwicklung der Individualisierung mit. «Scoring» und «risikogerechte» Prämien sind einige Stichworte in diesem Kontext.

Doch bei aller Individualisierung: wir wären nicht hier, wenn es uns nicht gäbe. Alleine überlebt ein Mensch nicht. Wir brauchen Gemeinschaft und Solidarität. Dies ist und bleibt die Basis eines gesunden Zusammenlebens. Und übrigens: Facebook schafft nicht nur neue Arten von Freunden, sondern auch neue Formen von «Communities», von Gemeinschaften, die schon - wie wir wissen - einiges bewegt haben, auch wenn nicht aus jedem (arabischen) Frühling ein Sommer wird, zumindest bislang nicht.

Es braucht beides: Solidarität und individuelle Selbstverantwortung. Auf die richtige Balance kommt es an.

Diese Balance haben wir grundsätzlich gerade in der Altersvorsorge. Wir haben die Solidarität in der 1. Säule, Individualität in der 2. Säule und Selbstverantwortung in der 3. Säule. Dass die Altersvorsorge heute stark unter Druck ist, hat nichts damit zu tun, dass dieses Drei-Säulen-System an sich nicht gut wäre. Im Gegenteil: Es gilt als eines der besten Vorsorgesysteme weltweit. Die Kombination der verschiedenen Finanzierungsverfahren in der 1. und 2. Säule ermöglicht einen optimalen Ausgleich der verschiedenen Risiken. Das System ist aber nur erfolgreich, wenn alle drei Säulen stark und stabil sind.

Die AHV ist ein reines Solidarwerk: Gelder werden umverteilt, die Erwerbstätigen finanzieren die heutigen Renten. In der Beruflichen Vorsorge hingegen ist eine solche Umverteilung nicht vorgesehen. Im Kapitaldeckungsverfahren spart jeder individuell seine künftigen Renten an. Und trotzdem werden infolge des demographischen Wandels Milliarden Franken von Jung zu Alt umverteilt, was wir uns bis heute nur dank Wohlstand leisten können. Die berufliche Vorsorge ist eine gigantische und vom System her nicht intendierte Umverteilungsmaschine geworden und strapaziert die nachhaltige Finanzierung zunehmend. Es ist fast wie Goethes Zauberlehrling: Die Geister, die man rief um die Vorsorge zu verbessern, machen das so «gut», dass sie anfangen, den gesellschaftlichen Generationenfrieden zu gefährden.

Die Altersvorsorge in der Schweiz steht vor grossen Herausforderungen.
Heute beziehen über zwei Millionen Personen in der Schweiz eine Altersrente. Etwa vier Erwerbsfähige kommen auf einen Rentner, bis 2050 werden es voraussichtlich nur noch zwei sein. Dass diese demografische Entwicklung auch Anpassungen in der Altersvorsorge nach sich ziehen muss, ist selbstverständlich.

Klar ist auch, dass die zu hohen, politisch motivierten Garantien in Form von Mindestzins und Mindestumwandlungssatz das System der beruflichen Vorsorge aushöhlen und geradezu destruktiv wirken. Da beispielsweise der Umwandlungssatz zu hoch ist, sind alle gesprochenen garantierten Renten zu hoch, was in der Konsequenz zu einem Abbau der Substanz der Pensionskassen führt. Damit wir aber für die Senkung des Umwandlungssatzes in der Bevölkerung Unterstützung bekommen, muss das Leistungsniveau – sprich die Rente – so weit wie möglich mit flankierenden Massnahmen aufrechterhalten werden.

Erschwerend kommt hinzu, dass momentan der dritte «Beitragszahler», der Kapitalmarkt, schwächelt und dies wohl noch länger tun wird. Wir werden nolens volens gezwungen sein, langfristig realistische Produkte anzubieten.

Gleichzeitig sind die «jungen Alten» erfahren, begütert und begabt. Dieses Potential gilt es künftig sinn- und wertvoller in Wirtschaft und Gesellschaft einzubringen. Das Rentenalter anzuheben ist deshalb eine mögliche Lösung um die Altersvorsorge weiterzuentwickeln. Eine angepasste Lebensplanung von «Midlife Boomern», das heisst den heutigen ungefähr 50-jährigen Baby Boomern, die zahlenmässig stark und in der Regel gut ausgebildet sind, kann eine weitere flankierende Lösung sein. Sie können neue Weichen für ihr zukünftiges rund 20-jähriges Berufsleben stellen, zumal die zweite Lebenshälfte nicht Verzicht und Vergreisung bedeutet. Im Gegenteil: Wir leben länger, sind fitter und gesünder als je zuvor. Und wie immer mehr Studien zeigen: Wir sind auch glücklicher als in der ersten Lebenshälfte! Eine neue Laufbahnplanung für die zweite Lebenshälfte würde übrigens auch eine Weiterentwicklung des Bildungssystems brauchen. Es könnte normal werden, mit 50 einen neuen Beruf zu erlernen. Und wenn die heute Geborenen etwa 100 Jahre alt werden, und davon vielleicht 60 Jahre arbeiten, dann brauchen wir definitiv neue Drehbücher fürs Leben, neue Lebenszyklus-Modelle.

Dass die Altersvorsorge vor grossen Herausforderung steht, darüber sind sich alle Parteien, Interessengruppen und Sozialpartner einig. Einigkeit besteht auch darüber, dass dringend gehandelt werden muss, um künftigen Generationen keine desolate Situation zu hinterlassen. Bei den konkreten Massnahmen scheiden sich dann aber die Geister.

Der Schweizerische Versicherungsverband SVV engagiert sich stark in der Debatte um die Zukunft der Altersvorsorge, welche mit dem Bericht des Bundesrates über die Zukunft der 2. Säule neu lanciert wurde. Wir wollen unseren Beitrag leisten!

Unser Ziel ist es, mit unserer Expertise an tragfähigen Lösungen mitzuarbeiten. Dazu gehört übrigens auch unser «Asset», genannt «Big Data», unser immenser, täglich wachsender Schatz an Daten. «Big Data» wird einer der wichtigsten Wachstumstreiber in Zukunft, man redet vom «Öl des 21. Jahrhunderts» oder gar von «Gold dust». Er wird Produktivitäts- oder noch viel wichtiger Innovationsfaktor sein. Wir haben reichlich davon und wir werden diesen neuen Faktor klug nutzen.

Gleichzeitig müssen wir besser kommunizieren. Denn es nützt nichts, selber überzeugt zu sein. Rein technische, sachliche und aus unserer Sicht richtige Argumente reichen nicht. Wir wollen und müssen nicht nur gehört, sondern auch verstanden werden. Erst dann haben wir Chancen für ein «Ein-Verständnis», sprich: eine Mehrheit für unsere Anliegen zu gewinnen.

Dabei ist eines klar: Nostalgie, Ideologie oder das Festhalten an alten Privilegien ist für alle Beteiligten fehl am Platz. Wir müssen uns in neuen Flexibilitäten einrichten. Oder, in Anlehnung an einen Buchtitel von Betty Zucker: «Nur Agilität bringt Stabilität».

Die Zukunft der Altersvorsorge fordert heute von uns allen Visionen. Es braucht eine breit abgestützte Diskussion und vor allem mutige Entscheide, welche Lösungen wir uns für die Zukunft leisten wollen. Und Mut, meine Damen und Herren, ist in unserer heutigen Risikogesellschaft zu einer knappen Ressource geworden. Mut im Sinne einer mit Klugheit und Besonnenheit gewonnenen Erkenntnis darüber, welche Innovationen in bestimmten Zeiten richtig oder falsch sind. Und Innovationen bergen per Definition immer Risiken, das heisst Chancen und Gefahren.

Mut ist eine Erkenntnis, kein Gefühl. Und in diesen aktuellen Zeiten kann der Mut zu einem wertvollen Instrument der Veränderung werden, weil er ein Risikoverständnis bewusst macht, das den Blick nicht nur auf die Gefahren freilegt, sondern auch die Chancen im Auge hat. Und gerade in schlechten Zeiten gibt es gute Chancen – wenn man sie erkennt und mutig ergreift.

Gemeinsam mit relevanten Akteuren unserer Gesellschaft, mit Kunden und Beteiligten wollen wir diese Chancen erkennen und innovative Lösungen und Modelle entwickeln. Wir wollen das von allen guten Geistern verlassene Vorsorgesystem wieder ins Lot bringen. Ob wir auch können, hängt sowohl vom Willen der Politik und der Bürger ab, notabene aber auch von unserer Innovationskraft als Versicherer und, last but not least, unserer Glaubwürdigkeit! Wir müssen als ein vertrauensvollerer und glaubwürdigerer Partner im Lösungsprozess wahrgenommen werden - und in dieser Hinsicht sind wir nicht unverbesserlich gut.

Und gerade deswegen – sehr verehrte Anwesende – gerade deswegen bin ich optimistisch: Ich glaube an unsere Kraft und Kompetenz der Innovation und Entwicklung. Ich bin überzeugt, dass wir unsere Glaubwürdigkeit erhöhen können und werden. Und, dass wir mehrheitsfähige Lösungen finden.

Meine Damen und Herren, die guten alten Zeiten sind vorbei - bessere stehen an.

Ich zähle auf Sie und danke Ihnen.

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