Vor­sor­gen, nicht um­ver­tei­len

Jahresbericht21. Juni 2019

Jérôme Cosandey ist Directeur romand von Avenir Suisse. Er setzt sich als Forschungsleiter «Finanzierbare Sozialpolitik» vorwiegend mit der Altersvorsorge, Gesundheitspolitik sowie mit dem Generationenvertrag auseinander.

Beitrag aus dem Jahresmagazin View

Die Pflegekosten werden spätestens ab 2035 aus demografischen Gründen zu einer grossen Herausforderung für die Gesellschaft und für den Generationenvertrag. Damit die Lasten nicht auf immer weniger Schultern verteilt werden, sollen ältere Erwerbstätige ab 55 monatlich Geld für die spätere Pflege auf die Seite legen müssen. Das individuelle Pflegekapital kann im Todesfall vererbt werden. Braucht es das wirklich? Jérôme Cosandey von Avenir Suisse ist überzeugt: Dieses Modell stärkt die Eigenverantwortung und entlastet die Sozialsysteme. Aber auch dieses System kommt nicht ohne Umverteilung aus. 
 

Jérôme Cosandey

Herr Cosandey, mit Ihrem Vorschlag für ein obligatorisches Pflegekapital wollen Sie ein neues Zwangssparen einführen. Ist das liberal?

Ja. Es ist nun mal eine Tatsache, dass die Pflegekosten massiv steigen werden. Bis 2045 werden sich aufgrund der demografischen Entwicklung die Pflegekosten im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt verdoppeln. Auch in der Betreuung stehen wir vor grossen Herausforderungen. Heute kommen auf eine über 80-jährige Person noch zwölf Personen im Erwerbsalter; ab 2035 werden es noch sieben sein. Deshalb brauchen wir liberale Ansätze, um die Pflege in Zukunft zu organisieren.

Und das geht nur mit neuen Zwangsabgaben?

Zwangsabgaben haben wir so oder so, im jetzigen System halt mit Steuern und Krankenkassenprämien. Mit dem Pflegekapital geht das Geld nicht «verloren» und wird auch nicht umverteilt. Vielmehr liegt das Geld auf dem Sperrkonto für spätere Pflegebedürfnisse. Das stärkt die Eigenverantwortung. Im Todesfall kann übrig gebliebenes Kapital an die Nachkommen vererbt werden. Das entspricht auch dem Bedürfnis der meisten Leute, den eigenen Kindern etwas zu hinterlassen.

Und wenn ich gar nicht will, dass meine Kinder dieses Kapital erben?

Dieses Problem gilt im gültigen Erbrecht mit den Pflichteilen auch schon. 

Wenn ein Geldtopf herumsteht, wird er auch bewirtschaftet. Birgt das Pflegekapital nicht die Gefahr, dass die Pflegekosten sich nach oben anpassen?

Die Gefahr besteht. Aber es gibt Mechanismen, die auf marktwirtschaftliche Weise dafür sorgen, dass Heime oder andere Anbieter effizient arbeiten und die Kosten im Zaum halten. Solche Massnahmen sind manchenorts schon heute in Kraft.

Man könnte meinen, die Alten seien nur eine Last für die Gesellschaft, insbesondere für die Gemeinden.

Natürlich sind sie das nicht. Im Gegenteil: Viele Pensionierte, die noch gesund und mobil sind, engagieren sich zum Beispiel bei der Betreuung von Enkeln oder in der Pflege von Angehörigen, aber auch in Parteien und Vereinen. Bei den finanziellen Verhältnissen aber darf man nicht alle Rentner in den gleichen Topf werfen. Zirka 20 Prozent von ihnen sind Millionärshaushalte, wobei hier das Geld meist im Haus steckt. Gleichzeitig bezieht ungefähr jeder zehnte Rentner Ergänzungsleistungen, darunter jeder zweite Pflegeheimbewohner.

Wie kann das Ihr Vorschlag ändern? Es wird entsprechend viele Personen geben, die das Pflegekapital nicht ansparen können. 250 Franken pro Monat – so viel haben Sie fürs Erste vorgesehen – ist für ein kleines Budget kein Pappenstiel. Dann kommen wieder die Prämien- und Steuerzahler zum Zug.

Das stimmt. Doch solange wir nicht wollen, dass Leute auf der Strasse ein unwürdiges Dasein fristen müssen, brauchen wir ein gewisses Mass an Solidarität. Mit unserem Vorschlag allerdings erst subsidiär, nachdem das Pflegekapital aufgebraucht ist. Das entspricht der liberalen Idee. 

Immer mehr Steuern, immer höhere Krankenkassenprämien, eine zweite Säule, die Geld von Jung zu Alt umverteilt – hat der Einzelne da bald gar nichts mehr zur freien Verfügung im Portemonnaie?

Der Eindruck täuscht. Auch wenn die Zwangsabgaben zunehmen, haben wir heute mehr Geld im Portemonnaie als früher. Das verfügbare Einkommen steigt stetig, und zwar bei den «Reichen» genauso wie bei den «Armen». Das ist eine Tatsache, die man nicht schlechtreden sollte.