Prä­si­di­al­re­de 2017 von Urs Ber­ger

NewsArchive22. November 2017

Urs Berger, Präsident des Schweizerischen Versicherungsverbandes

Generalversammlung, 29. Juni 2017
Bern

Es gilt das gesprochene Wort.
 

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen.

Als ich das Präsidium des SVV vor 6 Jahren antrat, sah die Welt anders aus. Sie hat sich in kurzer Zeit spürbar verändert. Im historischen Kontext mag diese Zeitspanne vernachlässigbar sein. Der Wandel betraf uns jedoch alle. Rückblickend nehme ich die Welt von «damals» als geordneter und stabiler wahr. In der Politik hatten wir klarere Grenzen und homogenere Lager. In der Wirtschaft galten bewährte Geschäftsmodelle und intaktere Normen. Das Leben war berechenbarer und dabei eventuell etwas gradliniger.

Ereignisse und Entwicklungen, die «damals» ihren Anfang nahmen, waren Vorboten der Veränderung. Ich erinnere hier an

  • Fukushima
  • Währungs- und Zinseinbrüche
  • Krieg und Flüchtlingsströme
  • zunehmend mediatisierte und polarisierte
  • politische Landschaften
  • die polarisierende Distanz und den Vertrauensverlust zwischen dem politischen und wirtschaftlichen Establishment

Manche Ereignisse führten zu weitreichendem Umdenken. Fukushima hat uns die Augen geöffnet und in Klima- und Energiefragen zum Handeln gezwungen. Andere Ereignisse wiederum verunsichern und harren der Lösungen. Die Stichworte hier sind Nationalismus und Terrorismus.

Diese Ereignisse ereigneten und ereignen sich vor dem Hintergrund der Digitalisierung. Sie nimmt stetig zu und stellt Bewährtes und Vertrautes schlagartig und schonungslos infrage. Die Digitalisierung ist der heutige Motor des Wandels. Wir stehen an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter.

Der grosse Umbruch hat erst begonnen. Die Dynamisierung lehrt uns vor allem eines: Gelassenheit.

Für tragfähige Lösungen – Gemeinwohl vor Partikularismus

Guten Anschauungsunterricht dazu liefert die Diskussion um die Reform der Altersvorsorge. Ich anerkenne, dass sich alle Beteiligten um eine mehrheitsfähige Lösung bemühen. Ich nehme mit einer gewissen Genugtuung zur Kenntnis, dass die, die uns vor Jahren noch als Rentendiebe bezeichneten, den Sinn einsehen, mit schmerzhaften technischen Eingriffen, langfristig auf demographische Veränderungen zu reagieren. Ich werde dennoch den Eindruck nicht los, dass zu viel um partikuläre Positionen gerungen wird. Dabei werden die brennenden Zukunftsthemen ausgeklammert.

Die Tatsache, dass wir immer älter werden, verlangt von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft alles an Kreativität und Mut ab, um den Wandel so gesellschaftsverträglich wie möglich zu gestalten. Je früher die ernsthafte Debatte um frische Lösungsansätze beginnt, desto besser. Es muss in unserem Land gelingen, Partikularismen zu überwinden und den Weg freizumachen für dauerhaft tragfähige Lösungen.

Regulierung mit Augenmass – für eine wettbewerbsfähige Schweiz

Meine Damen und Herren, es ist verlockend, auf die Unsicherheiten, die technologischen Entwicklungen folgen, mit mehr und noch detaillierterer Regulierung zu antworten. Es ist aber ein Trugschluss, wenn man meint, dass so mehr Sicherheit entsteht. In Zeiten beschleunigten Wandels brauchen Unternehmen – und innovative, unternehmerisch denkende Menschen – nicht weniger Freiheit, sondern mehr. Sie benötigen staatliche Rahmenbedingungen, die sie unterstützen und fördern, im Interesse aller. Ein Normenkorsett, das Innovationskraft im Keim erstickt, ist verheerend.

Leider hat sich das politische Umfeld hier noch nicht zum Besseren entwickelt. Statt Freiräume zu gewähren, schnürt das Korsett der Regulierung ein. Augenmass bei der Regulierung war während meiner ganzen Präsidialzeit mein Leitmotiv. Sie ist eine der Grundfesten des SVV. Umso erfreuter habe ich zur Kenntnis genommen, dass der Nationalrat in der letzten Session entschieden hat, dass für jedes neue Gesetz gleichzeitig ein bisheriges aufgehoben werden muss. Besonders hervorheben möchte ich hier aber die Finanzplatzstrategie des Bundesrates, die auf den Arbeiten der Expertengruppe Brunetti basiert. Dass bereits früh innerhalb eines Regulierungsprozesses die betroffenen Branchen einbezogen und auch Kosten-Nutzen-Abwägungen vorgenommen werden, lässt hoffen.

Es wäre ein zentraler Schritt, der die Schweizer Wirtschaft auch im internationalen Wettbewerb weiterbringt.

Mein Dank gilt an dieser Stelle besonders Herrn Bundesrat Maurer. Ihm ist es zu verdanken, dass die Finanzplatzstrategie nicht zum Papiertiger verkommt und wir Versicherer auf Augenhöhe mit den Banken gehandelt werden.

Zudem darf ich mit Genugtuung feststellen, dass wir zunehmend konstruktive Ansätze mit der FINMA diskutiert haben in den letzten Monaten und Mark Branson unsere Anliegen ernst nimmt.

Entsolidarisierung vs Sharing Economy – dem Grundprinzip der Assekuranz Sorge tragen

Ich habe vorhin im Zusammenhang mit der alternden Gesellschaft von Partikularismen gesprochen, die es im Sinne des grossen Ganzen hintan zu stellen gilt. Ich möchte es deshalb nicht versäumen, an dieser Stelle auch vom Antipoden des Partikularismus zu sprechen: der Solidarität, dem Grundprinzip von uns Versicherungen. Das Solidaritätsprinzip ist in Gefahr. Wir müssen – und können – Gegensteuer geben.

Mit dem Fahrtenschreiber im Auto und dem Fitnessmesser am Handgelenk ermöglichen wir unseren Kundinnen und Kunden, bei Wohlverhalten für sich bessere Prämien auszuhandeln. Damit einher geht, dass sie nicht mehr bereit sind, für andere, die weniger risikobewusst sind, Prämien mit zu bezahlen. Eine eigentliche Entsolidarisierung droht.

Auf der anderen Seite gibt es jedoch Tendenzen zur Sharing Economy. Heute werden Autos, Wohnungen und sogar Meerschweinchen geteilt. Das ist der klare Gegentrend zur Individualisierung. Damit kommt ein spannendes und wichtiges Thema auf uns zu, das wir nutzen können, um der Entsolidarisierung entgegenzuwirken. Kundinnen und Kunden möchten heute oft nur noch einen unmittelbaren Versicherungsschutz. Wir Versicherer sind gefordert, kurzfristigere Produkte anzubieten: die Motorhaftpflicht für einen Tag sozusagen. Damit schliesst sich der Kreis zur Innovation, die ich zu Beginn angesprochen habe.

Für all jene, die bei den Meersäuli hängen geblieben sind: In der Schweiz ist es gesetzlich vorgeschrieben, Meerschweinchen mindestens zu zweit zu halten. Was also tun, wenn eines stirbt? Ein zweites kaufen? Die unendliche Geschichte? Oder besser, wie findige Köpfe es heute anbieten, eines leasen? Es soll niemand sagen, die Sharing Economy sei nicht in der Schweiz schon früh erfunden worden.

Dialog statt Boxen – Verbandslandschaft im Wandel

Zurück ins Ernste. Für die Bewältigung der «heissen Eisen» braucht es den Beitrag aller Beteiligten – auch unseren. Ich weiss, viele Versicherer sind auf dem Weg. Doch niemand wird alleine den Stein der Weisen finden. Die Kunst wird darin bestehen, den konstruktiven Dialog zu fördern. Das heisst: dem Anderen zuhören, seine Anliegen verstehen und auf sie eingehen. Das ist weit mehr als Positionen aufzubauen und durchzuboxen. Auch die Verbände müssen sich wandeln. Im Zeitalter der mediatisierten, personifizierten und moralisch aufgeladenen Politik werden sie wesentlich mehr tun müssen, um ihre Interessen zu definieren, zu bündeln und glaubwürdig in der Öffentlichkeit zu vertreten. Ich bin sicher, dass das dem SVV unter der Führung meines Nachfolgers gelingen wird.

Damit habe ich den Kreis der Herausforderungen geschlossen. Es wird Zeit, nun unseren ersten Gastredner zu begrüssen. Lieber Jürg, ich freue mich, dass Du hier bist! Herr Nationalratspräsident, darf ich Sie bitten.