Gast­re­fe­rat von Jürg Stahl an der SVV-Ge­ne­ral­ver­samm­lung 2017

NewsArchive22. November 2017

Generalversammlung, 29. Juni 2017

Bern

Es gilt das gesprochene Wort.
 

Sehr geehrte Damen und Herren

Auch im letzten Jahr haben die Versicherer wieder Milliarden auf die Sicherheit und das Wohlbefinden der Bevölkerung gesetzt. Sie haben grosse Summen gewettet, dass man nicht bestohlen wird, dass man nicht Opfer von Feuer- und Wasserschäden wird, dass Waren nicht beschädigt werden, dass keine Unfälle erlitten werden, dass man nicht krank wird, ja, sogar darauf, dass man nicht ums Leben kommt.

Versichern und wetten – bei beiden geht es um die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten bestimmter künftiger Ereignisse. Aber nur keine Angst, ich plane keinen Vorstoss, um die Assekuranz dem Spielbankengesetz zu unterstellen, denn trotz prinzipieller Ähnlichkeiten hat es natürlich schon seinen Grund, dass die Versicherungsgesellschaften nicht als Wettbüros gelten: Sie versprechen nicht schnellen Gewinn, sondern mehr Sicherheit; sie bieten nicht stündlich ändernde Quoten, sondern feste Prämien und Leistungen; sie stellen nicht einen kurzfristigen Adrenalinkick in Aussicht, sondern langfristige Planbarkeit, sie locken nicht mit der Chance auf plötzlichen Geldsegen, sondern werben mit der Möglichkeit der Gefahrenabdeckung. Nicht Spass und Fun, sondern Verantwortungsgefühl und Risikokalkulation stehen im Vordergrund. Den Kunden droht keine Spielsucht, vielmehr können sie vor dem finanziellen Ruin bewahrt werden. Damit will ich nicht das Wettgeschäft verteufeln, das durchaus seinen Platz und seine Berechtigung hat, sondern nur die unterschiedlichen Motivationen und Zwecke der beiden mit Ereigniswahrscheinlichkeiten arbeitenden Branchen verdeutlichen. Das Versicherungsgeschäft ist insgesamt vielleicht nicht so «cool» und aufregend wie dasjenige der Spiel- und Wettbranche, dafür ruhiger, solider, langfristiger und vertrauenswürdiger, mit einem Wort: schweizerischer.

Dazu passt, dass die Versicherungswirtschaft im Vergleich zu anderen Branchen diskreter auftritt. Sie ist weniger in den Medien und sorgt seltener für Schlagzeilen. Das ist positiv und wichtig und muss auch in Zukunft so bleiben. Das Management und das Kader dürfen die Bodenhaftung nie verlieren und müssen zum Ansehen ihrer Unternehmen, der Branche und des Wirtschaftsstandorts Schweiz Sorge tragen. Lohnexzesse, aggressive Strategien, Medienhypes und öffentliche Diskussionen um Personalfragen wären gerade für die Reputation von Versicherungsunternehmen katastrophal. Das sind nicht Dinge, die man mit dem Sicherheitsgedanken in Verbindung bringt.

Die Vermittlung eines Sicherheitsgefühls, die Tatsache, dass die Assekuranz auf die Sicherheit setzt, ist zentral. Durch die Abdeckung von Risiken werden Energien frei, wird Unternehmertum gefördert, wird Selbstvertrauen aufgebaut. Das gilt in vielen Bereichen: im Privatleben, im Berufsleben, im Sport.

Ich will das anhand eines Beispiels veranschaulichen: Stellen wir uns zwei gleichermassen talentierte Abfahrts-Skifahrer und Olympia-Teilnehmer vor – das Beispiel ist rein zufällig gewählt. Sportler A hätte alle sinnvollen Versicherungen abgeschlossen (also Unfall-, Haftpflicht-, Krankenversicherung sowie spezifische Sportversicherungen wie z.B. Privathaftpflichtversicherung, Berufsunfähigkeitsversicherung, Auslandsreisekrankenversicherung usw.). Sportler B hingegen wäre überhaupt nicht versichert. Skifahrer A könnte das entscheidende Rennen voll konzentriert und voller Elan angehen. Er wüsste, dass er und seine Familie im Notfall finanziell abgesichert wären.
Auf der anderen Seite müsste Skifahrer B immer befürchten, sich bei einem Sturz zu verletzen. Das hätte für ihn und die Seinen schwerwiegende finanzielle Folgen und könnte gar existenzbedrohend sein. Er wäre somit mental nicht frei und würde mit angezogener Handbremse fahren, um nur ja keinen verhängnisvollen Fehler zu begehen. Es ist unschwer zu erraten, welcher der beiden Sportler im Normalfall erfolgreicher wäre.

Erfolgsphasen – im Sport und in der Wirtschaft – entstehen nicht nur aufgrund der Leistungen einzelner Menschen. Es braucht ein gut eingespieltes und funktionierendes Team, zahlreiche Personen, die, oft im Hintergrund wirkend, ihre Aufgaben erfüllen. Und zum funktionierenden Umfeld zählt eben auch das Sicherheitsgefühl, die Abdeckung von Risiken, ein genügender Versicherungsschutz.

Doch ist es heutzutage leider oft so, dass Sicherheit als etwas Selbstverständliches empfunden wird. Als ob sie ohne Zutun automatisch im Hintergrund gewährleistet würde. Für etwas, das irgendwie schon immer da war, will man möglichst kein Geld ausgeben. Aber wenn dann einmal das Unwahrscheinliche geschieht, ein Unglück oder ein Schaden, erwartet man wie selbstverständlich Unterstützung von irgendwoher, sei es von Versicherungsgesellschaften, vom Staat, von wem auch immer. Dieses Phänomen zeigt sich nicht nur auf privater, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene. So soll die Landesverteidigung möglichst wenig kosten, auf grössere Rüstungsbeschaffungen soll verzichtet werden, aber gleichzeitig geht man davon aus, dass der Schutz vor Terrorismus, vor feindlichen Mächten und vor sonstigen Bedrohungen schon irgendwie sichergestellt wird.

Die Schweiz ist hier gewissermassen Opfer ihres eigenen Erfolgs: Sie ist schon lange vor grösserem Unglück bewahrt und seit Ewigkeiten nicht mehr von Feinden angegriffen worden. Auch ist die Versicherungswirtschaft hier traditionell sehr stark. Viele bedeutende Unternehmen wurden in der Schweiz gegründet, und die Schweizer zählten immer zu den bestversicherten Menschen der Welt. Hüten wir uns aber davor, Sicherheit für etwas zu halten, das ohne Gegenwert zu haben ist.

Ich möchte hier auch die zentrale Bedeutung der Assekuranz für unsere Volkswirtschaft hervorheben. Sie repräsentiert einen wichtigen Teil des Finanzmarkts und spült über die Steuern viel Geld in die Staatskasse. Dies freut natürlich besonders den Herrn Finanzminister, dem ich es gerne überlasse, dieses Thema näher zu beleuchten.

Abgesehen von ihrem «Eigengewicht» mit den über 200 Unternehmen in der Schweiz, den fast 46’000 Mitarbeitenden, dem Prämienvolumen von rund 60 Milli-arden Franken und der Bruttowertschöpfung von annähernd 30 Milliarden Franken hat die Versicherungswirtschaft wegen der erwähnten Sicherheit, die sie bietet, auch eine zentrale Bedeutung für die Unternehmen aus allen anderen Branchen.

Um es bildlich auszudrücken: Sie steuert zum Uhrwerk Schweiz nicht nur ein solides Rädlein bei, sondern sorgt auch für die unentbehrlichen Öltröpfchen. Die Tatsache, dass das Schweizer Uhrwerk bzw. die Schweizer Wirtschaft die verschiedenen «Schocks» so gut überstanden hat und weiterhin wie geschmiert läuft, ist nicht zuletzt auch das Verdienst der Versicherungswirtschaft. Ohne sie würde sich die ganze Volkswirtschaft verlangsamen, und alles käme ins Stocken. Aber wenn die Uhr gut läuft, vergisst man schnell, dass sie von einem komplexen Mechanismus angetrieben wird. Erst wenn die Zeiger die Zeit nicht mehr korrekt wiedergeben, sagt man sich, dass man vielleicht doch einen Service hätte machen lassen sollen.

Es gibt kaum einen Wirtschaftszweig, der derart mit der übrigen Ökonomie verzahnt ist. Niemand sonst – nicht einmal die Politik – weiss besser Bescheid über die aktuellen Statistiken, die jüngsten Entwicklungen und neusten Trends. Diese beinhalten ja immer auch neue Risiken und erfordern Schätzungen zum Gefahrenpotenzial. Mit ihren Spezialisten und Prognostikern unterhalten die Versicherer und Rückversicherer eine Art Nachrichtendienst, der über die grossen gesellschaftlichen und technologischen Tendenzen informiert bleibt. Gleichzeitig nehmen die Versicherungsagenten die Veränderungen im Kleinen wahr, die Sorgen und Stimmungen in der Bevölkerung. So bleibt die Assekuranz stets am Puls der Zeit. Die Versicherer kennen sich nicht nur bestens mit den Themen aus, die sie direkt betreffen, wie etwa die Reform der Altersvorsorge, sondern auch mit den unzähligen Geschäften, von denen sie nur indirekt betroffen sind.

Entsprechend werden natürlich auch meine Kolleginnen und Kollegen in Bern und ich, bzw. das Geschehen im Parlament, ganz genau observiert. Ich könnte wetten, dass Sie schon exakt berechnet haben, welche der anstehenden Vorlagen durchkommen werden und welche nicht. Für ein paar Tipps wäre ich dankbar…