Rentenkrise? Weckruf trifft Wirklichkeit
SVV-Chefökonom Jan Schüpbach über alarmierende Rentenszenarien, was die Statistik sagt und warum beides den Ruf nach Reformen verstärkt
Das Vermögenszentrum (VZ) hat jüngst vorgerechnet: Neurentnerinnen und Neurentner müssten sich künftig auf drastische Rentenkürzungen einstellen. Seit 2002 seien die Pensionskassenrenten um 40 Prozent gesunken, weil die Pensionskassen ihre Leistungen angesichts steigender Lebenserwartung sowie tieferer Zinsen und Renditen «stark reduziert» hätten. Besonders für mittlere und hohe Einkommen sei das oft zitierte Ziel einer Altersrente nicht mehr erreichbar: mit der ersten und zweiten Säule auf 60 Prozent des letzten Salärs zu kommen. Bei vielen liege die Quote sogar unter 50 Prozent. Die Schlagzeile sass und das Medienecho war entsprechend gross.
Was die VZ-Studie nicht zeigt
Doch das zugrunde liegende Modell stützt sich auf Annahmen, die in der Praxis die Ausnahme sind: Die VZ-Studie rechnet mit hypothetischen Löhnen und Annahmen zur Lohnentwicklung sowie den BVG-Standardparametern – insbesondere mit den gesetzlichen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträgen – und simuliert damit auf Basis historischer Renditen den Vermögensaufbau bis zur Pensionierung. Anschliessend wird dieses Vermögen mit dem zum Pensionierungszeitpunkt durchschnittlich angewendeten Umwandlungssatz in eine Rente umgerechnet.
In der Realität sehen viele Vorsorgepläne deutlich besser aus: Zahlreiche Kassen erbringen überobligatorische Leistungen. Etwa höhere Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge, eine freiwillige Versicherung ab dem ersten Lohnfranken oder einen Anschluss an die Pensionskasse ab dem 18. statt ab dem 21. Altersjahr oder für Personen in Teilzeitpensen. Viele Pensionskassen haben zudem gezielte Massnahmen ergriffen oder Zuschüsse geleistet, um das Altersguthaben zu erhöhen und damit die Senkung der Umwandlungssätze zumindest teilweise zu kompensieren. Nicht zu vergessen sind zudem freiwillige Einkäufe, mit denen Versicherte Beitragslücken schliessen oder ihre künftige Rente gezielt erhöhen können.
Das VZ-Szenario blendet all diese Massnahmen aus – es zeigt nicht, wie es heute ist, sondern wie es wäre, wenn niemand Gegensteuer gegeben hätte.
Die Neurentenstatistik zeigt ein differenzierteres Bild
Ein realistischeres Abbild der tatsächlichen Rentensituation liefert die Neurentenstatistik (NRS) des Bundesamts für Statistik. Sie erfasst die in einem Kalenderjahr erstmals ausbezahlten Altersrenten und Kapitalbezüge – und das aus allen drei Säulen. Die Daten sind erst seit 2015 verfügbar; die ersten Jahre sind noch von Übergangseffekten geprägt.
Eine Auswertung von Avenir Suisse aus dem vergangenen Jahr zeigt: Zwischen 2015 und 2022 sind die durchschnittlichen Leistungen der zweiten Säule lediglich um 1 bis 5 Prozent gesunken. Bei den Frauen nahmen sie dank höherer Erwerbsbeteiligung sogar um 2 bis 6 Prozent zu. Die Entwicklung ist damit deutlich heterogener, als jedes vereinfachte Modell vermuten lässt.
Also alles kein Problem?
Das Ziel einer 60-Prozent-Ersatzquote gilt im BVG-obligatorischen Teil, d. h. aktuell bis zu einem Jahreslohn von maximal CHF 90'720, und soll in erster Linie Altersarmut verhindern – ein sozialpolitisch zentrales Ziel. Auch Erwerbstätige mit höheren Einkommen streben jedoch in der Regel ebenfalls bewusst eine Ersatzquote in der Grössenordnung von 60 Prozent bzw. sogar 80 Prozent (inkl. dritte Säule) an, um ihren gewohnten Lebensstandard im Ruhestand zu halten.
Handeln bleibt Pflicht
Sowohl Modellrechnung als auch Statistik zeigen: Ohne Massnahmen wird dieses Ziel langfristig nicht erreichbar sein. Die Lebenserwartung steigt weiter, und das Zinsniveau bleibt zumindest vorerst tief. Die Pensionskassen haben ihren Spielraum weitgehend genutzt: Sie haben, wo möglich, die Umwandlungssätze und damit künftige Renten gesenkt, weil das Kapital über mehr Rentenjahre verteilt werden muss und tiefere Zinsen den Ertrag aus dem vorhandenen Vermögen verringern. Nun ist die Politik gefragt, den Rahmen zukunftsfest zu gestalten. Auch wenn die neuen Prognosen für die AHV weniger düster ausfallen, bleibt eine strukturelle Anpassung – etwa beim Rentenalter – für die langfristige Sicherung der Altersvorsorge notwendig, politisch aber nach wie vor schwer realisierbar. Wer trotz höherer Lebenserwartung nicht länger arbeiten will, muss konsequenterweise entweder zusätzliche Beiträge leisten oder Leistungseinbussen in Kauf nehmen – der «Fünfer und das Weggli» ist auch hier ausser Reichweite.
Was für jeden und jede gilt: Die eigene Vorsorge sollte nicht aufgeschoben werden. Je nach Arbeitgeber lassen sich freiwillig höhere Sparbeiträge leisten oder der Pensionierungszeitpunkt kann nach hinten verschoben werden. Auch die private Vorsorge wird weiter an Bedeutung gewinnen: Wer heute handelt, hat morgen die besseren Karten.
Dieser Kommentar ist am 25.8.2025 auf HZ Insurance erschienen.