«Die Um­ver­tei­lung in der zwei­ten Säu­le miss­ach­tet das Nach­hal­tig­keits­prin­zip»

Interview

Verbandspräsident Rolf Dörig blickt auf die aktuellen Herausforderungen der Schweizer Versicherungswirtschaft. Auch in der Pandemie erfüllen die Privatversicherer ihre Aufgaben und vertraglichen Leistungen und stützen damit Wirtschaft und Gesellschaft in der Krise.

Rolf Dörig, die Pandemie dominiert unseren Alltag: Haben sich die Privatversicherer im vergangenen Jahr überhaupt noch mit anderen Themen beschäftigt?

Wie die gesamte Gesellschaft und Wirtschaft hat Corona auch uns stark gefordert. Pandemiebedingt haben die Privatversicherer im vergangenen Jahr rund 1 Milliarde Franken Schadenzahlungen geleistet. Wie vor dem Ausbruch der Coronakrise zahlten sie in den vergangenen Monaten aber auch unverändert täglich im Durchschnitt rund 140 Millionen Franken in Form von Renten und Schadenzahlungen an Private und Unternehmen.

Dennoch gab es Kritik an den Versicherern …

Ich kann den Unmut verstehen, wenn sich jemand mehr Leistung erhofft hat. Aber wenn das Versicherungsprinzip nicht ausgehebelt werden soll, können die Privatversicherer im Schadenfall nur dann Leistungen auszahlen, wenn für diese auch Prämien einbezahlt worden sind. Unsere Mitgliedgesellschaften mussten somit trotz der ausserordentlichen Situation auf die Einhaltung der Verträge pochen, waren jedoch gleichzeitig unbürokratisch und grosszügig; sie griffen vielen ihrer KMU-Kunden in vielfältiger Weise rasch und gezielt unter die Arme.

Heisst dies, für Risiken wie eine Pandemie gibt es keine Versicherungslösung?

Vorderhand jedenfalls nicht. Zum einen war es in der Vergangenheit schwierig, die Auswirkungen einer Pandemie richtig abzuschätzen, weil die Datenlage fehlte. Zum anderen unterlaufen global auftretende Risiken wie eine Pandemie zentrale Prinzipien der Versicherbarkeit: Schäden treten gleichzeitig und bei fast allen ein und verunmöglichen dadurch die Risikostreuung. Daher greifen rein privatwirtschaftliche Versicherungslösungen bei sogenannten Toprisiken nur unzureichend. Gerade deshalb waren wir Privatversicherer in den vergangenen Monaten bestrebt, im Teamwork mit dem Bund verschiedene Lösungsansätze für eine gemeinsame Versicherungslösung bei einer nächsten Pandemie zu finden.

Nun hat der Bundesrat am 31. März 2021 entschieden, das Konzept einer Pandemieversicherung nicht fortzuführen. Ein nachvollziehbarer Entscheid?

Nein. Das Konzept der Pandemieversicherung mag zwar noch nicht ausgegoren sein, aber dass der Bundesrat jetzt gleich den Übungsabbruch verkündet hat, ist unverständlich. Wer solche Grossrisiken im Haus hat, muss doch zwingend präventive Massnahmen prüfen!

Sie wollten die Kompetenzen der Versicherer einbringen? 

Genau. Prävention und Risikobeurteilung gehören zur DNA der Privatversicherer. Gelder im Schadenfall zu sprechen, ist das Eine. Viel herausfordernder ist die Frage, wer welche Gelder erhält – und wie diese Gelder effizient ausbezahlt werden. Die Privatversicherer können hier eingespielte Prozesse, Fachwissen und personelle Ressourcen bieten. Wir können eine Schadenmeldung innert kurzer Zeit abwickeln und die Anspruchsberechtigung ermitteln. Dies schafft Transparenz, verhindert ungerechtfertigte Auszahlungen und führt dazu, dass den Geschädigten schnell, effizient und effektiv geholfen werden kann. Das Know-how unserer Branche ist somit sehr wertvoll, soll eine künftige Lösung von der Bevölkerung den erforderlichen Goodwill erhalten.

Das ist der Vorteil gegenüber einem rein staatlichen Ansatz?

Es ist vor allem der Vorteil einer Versicherungslösung. Statt einer Verteilung im Giesskannenprinzip im Nachhinein und allein zulasten der Steuerzahlerinnen und -zahler ermöglicht eine Versicherungslösung Planbarkeit und Rechtssicherheit, lange bevor der Schadenfall eintritt. Beim Eintritt des Ereignisses sorgt sie dann dafür, dass jenen, die es wirklich brauchen, schnell geholfen wird. Und zwar nach Spielregeln, die vorher abgemacht wurden und die auf dem Solidaritätsprinzip beruhen.

Rolf Dörig, Präsident des Schweizerischen Versicherungsverbands SVV

Dr. Rolf Dörig, Präsident des Schweizerischen Versicherungsverbands SVV, blickt auf die aktuellen Herausforderungen der Schweizer Versicherungswirtschaft.

Sie sprechen das Solidaritätsprinzip an. Ist dieses nicht auch in der Altersvorsorge, insbesondere in der zweiten Säule, gefährdet?

Leider. Seit langem besteht dort ein dringender und zwingender Handlungsbedarf. Die Politik ist mit ihren Reformprojekten in der ersten und zweiten Säule gefordert. Das schweizerische Drei-Säulen-System ist breit akzeptiert und hat sich bewährt. Es ist jedoch in die Jahre gekommen – und jetzt wird auch noch versucht, in der zweiten Säule systemfremde Elemente einzubauen. Dagegen wehren wir uns mit aller Vehemenz. Das ausgewogene System muss nicht grundlegend umgebaut werden, sondern ist lediglich, dafür umso dringender, an die demografischen und ökonomischen Realitäten anzupassen.

Wie beurteilen Sie den bundesrätlichen Vorschlag für die BVG-Reform insgesamt?

Er enthält wichtige Elemente zur Stabilisierung der zweiten Säule. Wir unterstützen das Kernstück der Reform, die Senkung des BVG-Mindestumwandlungssatzes auf 6,0 Prozent in einem Schritt.

Und welche Punkte kritisieren Sie?

Insbesondere den vom Bundesrat vorgeschlagenen Rentenzuschlag und einen zeitlich unbefristeten Lohnbeitrag. Ein solches Verteilen mit der Giesskanne lehnen wir unmissverständlich ab. Die Kompensation muss vielmehr gezielt und bedarfsgerecht sein. Entsprechend verlangen wir, dass die Kompensationsleistungen zugunsten der Übergangsgeneration innerhalb der zweiten Säule in der Dauer befristet sind und nach Ablauf dieser Frist automatisch wegfallen. Nur so wird die Altersvorsorge nachhaltig reformiert.

Sie verlangen Nachhaltigkeit in der Altersvorsorge?

Ja, die Nachhaltigkeit ist auch in der Altersvorsorge zwingend. Es geht darum, nicht auf Kosten der nächsten Generation zu leben, sondern ihr ein intaktes Umfeld zu hinterlassen. Gerade die Umverteilung in der zweiten Säule, wie sie heute stattfindet, missachtet das Nachhaltigkeitsprinzip. Nachhaltigkeit braucht es in der Altersvorsorge ebenso wie in der Umweltfrage …

… bei der auch die Finanzbranche und damit auch die Privatversicherer im Fokus stehen.

Für unsere Mitgliedgesellschaften ist dieses Thema nicht neu, gehört die Nachhaltigkeit doch zum Kern ihres Geschäftsmodells. Als Professionals in der Risikoevaluation, aber auch als bedeutende Investoren tragen wir in dieser Hinsicht volkswirtschaftliche Verantwortung. Wer die Prämiengelder seiner Kundinnen und Kunden anlegt, hat eine Langfristoptik und damit auch ein Interesse an nachhaltigen Engagements.

Und welche Massnahmen ergreifen die Versicherer?

Viele Versicherer engagieren sich schon seit Jahren in diesem Thema und haben entsprechende Kompetenzen aufgebaut. Mit dem ersten Nachhaltigkeitsreport haben die Privatversicherer im vergangenen Jahr erstmals Aussagen über die ganze Branche ermöglicht. Diesen Report haben wir für 2021 weiterentwickelt. So können wir transparenter als bisher aufzeigen, was wir zu diesem Zukunftsthema beitragen.

Auch die Finanzmarktstrategie des Bundes nimmt das Thema Nachhaltigkeit auf.

Wir begrüssen den Ansatz des Bundes – nicht nur in Bezug auf die Nachhaltigkeit. Die aktualisierte Finanzmarktstrategie sichert Kontinuität und ist zielgerichtet ausgestaltet. Der Bundesrat greift die aus unserer Sicht zentralen Handlungsfelder auf: So kann der Finanzplatz Schweiz auch in den kommenden Jahren wettbewerbsfähig sein.

Wettbewerb besteht auch unter den SVV-Mitgliedern. Führt das nicht zu unterschiedlichen Interessen?

In einem Verband ist das normal. Der SVV lebt von der Vielfalt. Kleine Nischenversicherer, nationale Allbranchenversicherer, Kranken- und Unfallversicherer sowie globale Erst- und Rückversicherer sind Mitglied im Schweizerischen Versicherungsverband SVV. Natürlich haben diese Akteure zuweilen unterschiedliche Ansichten, ungleiche Bedürfnisse.

Sie führen einen Interessenverband an. Auch die politischen Geschäfte verliefen pandemiebedingt nicht immer wie geplant. Einen Abschluss hat im Jahr 2020 die Teilrevision des Versicherungsvertragsgesetzes gefunden. Sind Sie mit dem Ergebnis zufrieden?

Die engagierte Diskussion um das Gesetz zeigt dessen Bedeutung. Unser Einsatz hat sich gelohnt. Wir erachten die Teilrevision als ausgewogen. Sie stärkt die Rechte der Versicherten in vielerlei Hinsicht und ermöglicht eine dem digitalen Zeitalter angepasste Vertragsabwicklung.

Als Nächstes berät das Parlament nun die Teilrevision des Versicherungsaufsichtsgesetzes.

Wir erwarten, dass die Teilrevision das Gesetz an die aktuellen Erfordernisse anpasst. Ein zukunftsfähiges Aufsichtsgesetz muss Rahmenbedingungen schaffen, die den technologischen Fortschritt ermöglichen. Beim Versichertenschutz sollten differenzierte Lösungen gemäss dem Kundenschutzbedürfnis möglich sein. Sie sehen, die Verbandsarbeit bleibt auch in diesem Jahr anspruchsvoll und spannend.

Dieses Interview ist im SVV Jahresmagazins «View» erschienen.