VVG: Die­se Dif­fe­ren­zen müs­sen die Rä­te be­rei­ni­gen

KontextArchive07. November 2019

National- und Ständerat haben die Teilrevision des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) behandelt. In 13 Entscheiden sind sich die beiden Räte uneinig. In der Differenzbereinigung müssen National- und Ständeräte die Unterschiede beseitigen. Darum geht es bei den umstrittensten Differenzen.

Informationspflicht der Versicherer

Versicherte können laufende Lebensversicherungen zurückkaufen. Für diese Produkte soll der Versicherer bei Vertragsabschluss die mit dem Rückkauf verbundenen Kosten deklarieren müssen.

Was das in der Praxis heisst...

Judith B. schliesst heute eine Lebensversicherung ab. In 18 Jahren beschliesst sie, dass sie diese Lebensversicherung vorzeitig beenden will. Sie erhält den Rückkaufswert der von ihr einbezahlten Gelder. Das Gesetz will, dass der Versicherer Judith B. schon bei Vertragsabschluss über die Höhe der Kosten informiert, die vom Rückkaufswert in 18 Jahren abgezogen werden.

Der Ständerat hat sich im Gegensatz zum Nationalrat für diese Informationspflicht (Art. 3 Abs. 1 Bst. f) ausgesprochen.
Der SVV teilt die Haltung des Nationalrats und lehnt diese Informationspflicht ab, weil:

  • Der Versicherer muss schon heute über den Verlauf des Rückkaufswertes informieren. Dabei wird die Kundin oder der Kunde über die Art der anfallenden Kosten bei Rückkauf, nicht aber über die effektive Höhe informiert.
  • Lebensversicherungsverträge haben in der Regel lange Laufzeiten. Bei Vertragsabschluss ist nicht bekannt, ob überhaupt und falls ja, wann ein Rückkauf stattfinden wird. Eine Angabe der Kosten für den Fall des Rückkaufs ist somit bei Vertragsschluss nicht möglich, da die Kosten während der Laufzeit des Vertrags nicht vorhersehbar sind, wie dies die Finma in ihrem Rundschreiben festhält (RS 2016/6 Rz. 72).

Sanktionen bei Anzeigepflichtverletzung

Macht ein Versicherungsnehmer bei Abschluss eines Versicherungsvertrages falsche Angaben, so kann der Versicherer den Vertrag kündigen und die Leistung für kausale Schäden ablehnen (Schaden mit Verbindung zur Falschdeklaration). Diese Sanktionsmöglichkeit soll auf zwei Jahre nach Vertragsabschluss beschränkt werden.

Was das in der Praxis heisst...

Mario S., ein Raucher, verschweigt beim Abschluss einer Lebensversicherung, dass er raucht und an einer chronisch akuten Lungenerkrankung leidet. Aufgrund einer falschen Risikobeurteilung erhält er eine Deckung ohne Vorbehalt. Vier Jahre nach Abschluss der Lebensversicherung verstirbt Mario S. an besagter Lungenkrankheit. Der Leistungsfall soll trotz falscher Antragsdeklaration versichert sein.

Der Nationalrat hat diese zeitliche Begrenzung bei einer Anzeigepflichtverletzung (Art. 6 Abs. 2) beschlossen, der Ständerat lehnt sie ab.
Der SVV lehnt diese Begrenzung wie der Ständerat ab, weil:

  • Falsche Angaben bei Vertragsabschluss bleiben immer falsche Angaben und können dazu führen, dass der Versicherer das erwähnte Risiko permanent falsch einschätzt. Wenn der Schaden später als zwei Jahre nach Vertragsschluss eintritt, muss der Versicherer den gesamten Schaden decken, obwohl der Versicherte eine nicht risikogerechte zu tiefe Prämie bezahlt hat. Dies geht zulasten all derjenigen Versicherungsnehmer, die bei einem Vertragsschluss korrekte Angaben machen und eine höhere Prämie zahlen.
  • Die Frist kann daher als Anreiz wirken, unvollständige oder falsche Angaben zu machen, um so von einer tieferen Prämie zu profitieren.
  • Eine Beschränkung auf zwei Jahre «heilt» falsche Angaben nach kurzem Zeitablauf zulasten ehrlicher Kundinnen und Kunden.
  • Falschangaben werden oft erst im Schadenfall entdeckt. Dieser tritt häufig erst nach mehreren Jahren ein.

Kausalitätserfordernis

Die Sanktionierung von Falschangaben bei Vertragsabschluss soll relativiert werden. Im Schadenfall wären Falschangaben nur relevant, soweit diese einen Einfluss auf den Eintritt oder den Umfang des Schadens haben.

Der Ständerat hat sich für diese Anpassung (Art. 6 Abs. 3) entschieden, der Nationalrat dagegen.
Der SVV unterstützt die Fassung gemäss Nationalrat und lehnt die Relativierung ab, weil:

  • Schon im Jahr 2006 wurden die Rechtsfolgen im Gesetz entschärft. Seither erhält ein Versicherter oder eine Versicherte im Schadenfall die Versicherungsleistung trotz Falschangabe, wenn die Falschangabe keinen Einfluss auf die Schadenzahlungspflicht hat.
  • Eine weitere Relativierung wäre ein Anreiz zu Falschangaben, weil der Versicherte im Schadenfall darauf hoffen kann, trotz Anzeigepflichtverletzung eine Teilleistung zu erhalten. Dies setzt einen Anreiz für die Falschdeklaration und unterminiert die Anzeigepflicht, was weder im Sinne des Gesetzgebers noch des Versichertenkollektivs ist.
  • Sobald ein Kausalzusammenhang zwischen Falschangabe und Leistungspflicht besteht – und nur dann –, ist ein integraler Leistungsstopp die logische Folge.

Nachhaftung in der Krankenzusatzversicherung

Mit der Nachhaftung soll ein Krankenzusatzversicherer dazu verpflichtet werden, auch nach dem Ende eines Versicherungsvertrages für eine Krankheit zu zahlen, wenn diese beim Auslaufen des Vertrages schon vorhanden, aber noch nicht sichtbar war – und der Versicherte keine neue Zusatzversicherung bei einem anderen Anbieter abgeschlossen hat. In den Zusatzversicherungen für Heilungskosten gilt das Behandlungsprinzip. Gemäss diesem Prinzip deckt jeweils derjenige Versicherer die Krankheitskosten, bei dem die versicherte Person im Zeitpunkt der Behandlung versichert ist. Es braucht somit keine Nachhaftung.

Was das in der Praxis heisst...

Roberta K. ist unzufrieden mit ihrer Krankenzusatzversicherung. Sie hat ein Produkt für die private Abteilung bei einem stationären Spitalaufenthalt abgeschlossen. Sie kündigt und schliesst keine neue Versicherung ab. Dies ist ihr gutes Recht. Vier Jahre später wird bei ihr ein Tumor diagnostiziert. Dieser muss operativ entfernt werden. Ihr Arzt sagt, der Tumor sei über mehrere Jahre gewachsen. Obschon sie seit vier Jahren keine Prämien mehr bezahlt hat, will Roberta nun vom Chefarzt behandelt werden und auf der privaten Abteilung des Spitals in einem Einzelzimmer liegen. Sie verlangt von ihrer ehemaligen Versicherung, dass sie die Kosten für die private Abteilung übernimmt.

Besonders heikel wird es dann, wenn Roberta K. innerhalb der vier Jahre mehrmals die Zusatzversicherung gewechselt hat. Welcher Versicherer muss dann nachhaften? Diese Frage hängt davon ab, wann der Tumor genau entstanden ist. Dies führt zur weiteren Frage, wann genau entsteht ein Tumor? Kann das überhaupt festgestellt werden? Hier droht im Einzelfall ein kostenintensiver Gutachterstreit. Zudem stellt sich die Frage, wer den Zeitpunkt der Entstehung zu beweisen hat. Was, wenn beide Zusatzversicherer sagen, der Tumor habe schon vorbestanden, als Roberta K. zu ihnen gewechselt hat?

Der Nationalrat hat sich für die Nachhaftung (Art. 35c) in der Krankenzusatzversicherung ausgesprochen, der Ständerat dagegen.
Der SVV teilt die Ansicht des Ständerates und lehnt diesen Artikel ab, weil:

  • Von der Nachhaftung profitieren nur ehemals versicherte Personen, die eine Leistung von der Zusatzversicherung beziehen, obwohl sie keine Prämien mehr bezahlen, nachdem sie ihre Krankenzusatzversicherung aus eigenem Antrieb gekündigt haben oder nachdem sie rechtmässig aus der Krankenzusatzversicherung ausgeschlossen worden sind. Diese durch diese ehemals versicherten Personen verursachten Kosten müssen durch höhere Prämien für alle Versicherten finanziert werden. Mit anderen Worten: Alle Versicherten müssen die Zeche dafür bezahlen, damit wenige ehemals versicherte Personen von der Nachhaftung profitieren können.
  • Von der Nachhaftung kann nur profitieren, wer nach Beendigung der Versicherung bei der Gesellschaft X keine neue Zusatzversicherung bei einem anderen Anbieter abschliesst. Da keine Verpflichtung besteht, dem Vorversicherer den Abschluss einer Versicherung bei einem neuen Anbieter zu melden und innerhalb von fünf Jahren oftmals sogar mehrmals die Versicherung gewechselt wird, ist die Umsetzung der Nachhaftung sehr komplex. Es wird viele Gerichtsfälle geben. Der Aufwand wird auch bei Leistungserbringern (Ärzten, Spitälern, etc.) gross werden und es stellen sich heikle datenschutzrechtliche Fragen.

Kollektivtaggeldversicherung

Mit einer Kollektivtaggeldversicherung sichern Unternehmen ihr Risiko ab, für Mitarbeitende im Krankheitsfall den Lohn weiter zu zahlen. Es wird ein Unternehmensrisiko gedeckt.

Der Nationalrat will, dass das Kündigungsverbot für Versicherer in der Krankenzusatzversicherung (Art. 35a Abs. 4) auch für die Kollektive Krankentaggeldversicherung gilt. Der Ständerat ist dagegen.
Der SVV teilt die Ansicht des Ständerates und lehnt ein Verbot ab, weil:

  • Die Kollektive Krankentaggeldversicherung ist keine eigentliche Zusatzversicherung zur Sozialen Krankenversicherung nach dem Bundesgesetz über die Krankenversicherung. Es handelt sich vielmehr um eine Schadenversicherung. Die Prämien müssen risikogerecht bemessen sein. Wenn ein Betrieb sehr viele Schadenfälle hat, muss der Versicherer den Vertrag sanieren und die Prämien anpassen. Dazu muss er den Vertrag kündigen, um dem Versicherten einen Vertrag mit einer angepassten Prämie anbieten zu können. Wird den Versicherern dieses Kündigungsrecht verweigert, können sie alle Verträge nur noch mit einer festen Dauer von einem Jahr abschliessen. Heute erneuern sich die Kollektivtaggeldverträge jeweils stillschweigend, wenn keine Partei das Kündigungsrecht ausübt.
  • Diese heute gängige Praxis wäre in Zukunft nicht mehr möglich. Dies führt sowohl bei den Versicherern als auch bei den Versicherungsnehmern (Unternehmen) zu einem hohen administrativen Aufwand, der sich in höheren Kosten und letztlich höheren Prämien niederschlägt. Zusätzlich besteht – hauptsächlich bei KMU-Betrieben – das Risiko von Deckungsunterbrüchen. Dies ist aus Sicht des SVV nicht im Sinne der versicherten Arbeitnehmenden. Wie bei jeder anderen Schadenversicherung braucht es daher in der Kollektiven Krankentaggeldversicherung ein Kündigungsrecht für beide Seiten – und in Art. 35a Abs. 4 E-VVG ist eine entsprechende Ausnahme vorzusehen.
  • Zu unterscheiden ist zwischen der Absicherung des Unternehmensrisikos und jener der versicherten Arbeitnehmenden, die Taggelder beziehen. Diese erhalten die Taggelder auch im Fall einer Kündigung des Kollektivtaggeldvertrages maximal bis zum Ende der vereinbarten Leistungsdauer (i. d. R. 730 Tage).

Direktes Forderungsrecht

Ein Geschädigter oder eine Geschädigte soll mit dem generellen direkten Forderungsrecht im Haftpflichtfall die Ansprüche direkt bei der Versicherung geltend machen können. Der oder die Haftpflichtige könnten umgangen werden und Auseinandersetzungen zu Mehraufwand führen.

Der Nationalrat entschied sich für das generelle direkte Forderungsrecht (Art. 60 Abs. 1bis), der Ständerat lehnte es ab.
Der SVV lehnt wie der Ständerat ein generelles direktes Forderungsrecht ab, weil:

  • Ein direktes Forderungsrecht macht bei freiwilligen Versicherungen keinen Sinn. Wenn keine Versicherung besteht, nützt das direkte Forderungsrecht dem Geschädigten nichts und setzt Versicherer international aber höheren Risiken aus.
  • Ein direktes Forderungsrecht macht nur Sinn bei obligatorischen Haftpflichtversicherungen, Spezialfällen und hohen Risiken. Dort kann das direkte Forderungsrecht im Spezialgesetz jederzeit und spezifisch normiert werden, wie das zum Beispiel im Strassenverkehrsrecht (SVG) schon geschehen ist. Der Bundesrat hatte dies erkannt und so schon für Spezialfälle in seiner Botschaft vorgesehen.
  • Der versicherte Kunde verliert die Handlungsmacht über seinen Haftpflichtfall. Der Geschädigte kann den Fall direkt mit der Versicherung regeln. Die Interessen des Haftpflichtigen und der Versicherung müssen nicht dieselben sein, zum Beispiel bei einem hohen Schaden oder bei einem hohen Selbstbehalt. Der Haftpflichtige, der die Prämie und den Selbstbehalt zahlt, kann nicht mehr mitbestimmen. Verfahren werden komplizierter.